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Das Höhlengleichnis
In Platons berühmtem Höhlengleichnis (siehe Kapitel 3) sind Gefangene so am Boden der
Höhle angekettet, dass sie nur die Schatten der Dinge auf der Höhlenwand sehen, die vor
einer unsichtbar hinter ihnen liegenden Lichtquelle vorbeiziehen. Sie bilden sich Mein-
ungen, verfallen auf Trugschlüsse, streiten sich. Der Philosoph ist wie jemand, der sich
losreißt und aus dieser Situation befreit, so dass er die Realität sieht, wie sie wirklich ist.
Wie der Wissenschaftssoziologe Bruno Latour in seinem 1999 erschienenen Buch Poli-
tiques de la nature (Das Parlament der Dinge) aufzeigt, ist dieses Gleichnis im Zusam-
menhang mit den Naturwissenschaften zu neuem Leben erwacht. Platon deutete mit
seinem Höhlengleichnis die Notwendigkeit einer Reise an, die aus dem Reich der Körper-
lichkeit und der Sinne ins Reich der immateriellen Ideen führt. Dieser Sinngehalt hat
in der Neuzeit eine ganz andere Wendung bekommen. Für Materialisten ist etwas völ-
lig anderes als das Reich der Ideen zur objektiven Realität geworden, nämlich die math-
ematisch erfasste Materie. So sind es in der modernen Fassung dieses Gleichnisses al-
lein die Naturwissenschaftler, die vor die Höhle treten und die Realität sehen, wie sie
ist, um dann in die Höhle zurückzukehren und dem unwissenden und zerstrittenen Rest
der Menschheit etwas von ihren Erkenntnissen mitzuteilen. Nur Naturwissenschaftler
erkennen die Realität und die Wahrheit. »Der Philosoph und später der Naturwis-
senschaftler müssen sich von der Tyrannei des Sozialen, des öffentlichen Lebens, der
Politik, des subjektiven Empfindens und der Agitation befreien - oder eben die Höhle ver-
lassen -, wenn sie der Wahrheit teilhaftig werden möchten.« Die übrige Menschheit in
ihrer Höhle weiß unterdessen nichts Besseres, als bei ihrem Multikulturalismus, ihren
Konflikten und ihrer Politik zu bleiben.
Latour weiter:
Das Höhlengleichnis eignet sich sehr schön, um - gleichsam mit demselben Pinsel-
strich - ein Bild der Wissenschaft und ein Bild des sozialen Bereichs zu malen … Die
Gegensätze, so stellt sich heraus, sind in ein und derselben heroischen Gestalt ver-
einigt, nämlich im Philosophen-Wissenschaftler, der als Gesetzgeber und zugleich als
Erlöser auftritt. Zwar ist die Welt der Wahrheit eine absolut und nicht relativ andere
als die Welt des Sozialen, doch dem Naturwissenschaftler ist es unter allen Um-
ständen möglich, zwischen den beiden Welten hin und her zu gehen: Der Ver-
bindungsweg, allen anderen verschlossen, steht ihm offen … In der Originalfassung
der Geschichte, wir erinnern uns, gelingt es dem Philosophen nur unter großen
Mühen, die Ketten zu sprengen, die ihn an die Schattenwelt fesselten … Üppige
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