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Schamanische Reisen und körperloser Geist
Die Überzeugungskraft der Naturwissenschaft lag von Anfang an nicht allein in ihren
quantitativen Berechnungen, in Rationalität und Macht, sondern auch in ihrem Appell
an die Phantasie. Das wird nirgendwo deutlicher als in einem 1609 von Johannes Kepler
veröffentlichten Buch mit dem Titel Somnium sive astronomia lunaris (Der Traum, oder:
Mond-Astronomie) . In diesem Buch, so erklärt er, geht es darum, »vom Beispiel des
Mondes her eine Darstellungsweise für die Bewegung der Erde zu finden«. [547]
Eine große Schwierigkeit lag für Kepler und andere Verfechter des heliozentrischen,
das heißt des kopernikanischen Weltbilds darin, dass wir die Bewegung der Erde um die
Sonne nicht direkt nachvollziehen können: Die Erde fühlt sich für uns fest an, und die
Sonne scheint sich auf einer Kreisbahn um die Erde zu bewegen.
In seinem Traumbuch schildert Kepler eine Reise zum Mond und erklärt, wie sich das
Universum ausnimmt, wenn man es von dort aus betrachtet. Der Mond »scheint für seine
Bewohner stillzustehen, während sich die Sterne um ihn drehen, wie auch die Erde für
uns stillzustehen scheint«. [548] Sein Raumfahrer sah die Erde im Raum schweben und sich
um ihre eigene Achse drehen. Durch die vorgestellte Mondreise machte Kepler die neue
Astronomie anschaulich. Konkret wurde diese Ansicht im Globus. Wer im Geographieun-
terricht einen Globus betrachtet, hat damit einen Blick von außen auf die Erde. Realität
wurde das freilich erst mit der bemannten Raumfahrt, aber die Vorstellung von diesem
Blick auf die Erde von außen war weitaus älter als die kopernikanische Wende. Bereits
im dritten vorchristlichen Jahrhundert waren griechische Astronomen zu dem Schluss
gelangt, die Erde müsse rund sein - sie bauten sogar Globen. [549] Das Neue an Keplers
Vision war nicht die Außenansicht der Erde, sondern ihre Rotation.
Keplers Raumfahrt fand im Traum statt, und sein Astronaut war ein körperloser Geist,
der sich durch bloße Willenskraft dorthin versetzen konnte, allerdings in Begleitung
von Menschen, die es gewohnt waren zu fliegen, insbesondere »dürre alte Weiber, die
von Kindesbeinen an des Nachts in ihren Lumpen und mal auf Ziegen, mal auf Mistga-
beln weite Strecken auf der Erde zurückzulegen pflegten«. [550] Der Erzähler in Keplers
Geschichte wird dem reisenden Geist von einer weisen alten Frau vorgestellt, die an den
Hängen des Vulkans Hekla auf Island Kräuter sammelte. Von dort aus brachen die Mon-
dreisenden während einer Mondfinsternis auf, damit sie sich im Schatten der Erde halten
und die sengenden Strahlen der Sonne meiden konnten.
Die Geschichte brachte für Kepler eine Menge Ärger mit sich. Hexerei war in seiner
Zeit eine sehr ernste Angelegenheit. Allgemein wurde von Hexen angenommen, sie kön-
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