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Wie sehen wir?
Schon vor 2500 Jahren wurde in Griechenland über das Sehvermögen diskutiert. Rom
nahm den Faden auf, dann die islamische Welt, und er zog sich weiter durch das
europäische Mittelalter und die Renaissance. Diese Debatte spielte eine wichtige Rolle
für die Geburt der modernen Naturwissenschaft, und sie wird bis heute weitergeführt.
Historisch gesehen waren drei Haupttheorien des Sehens von Bedeutung. Die erste
besagte, dass wir durch die Augen unsichtbare Sehstrahlen aussenden oder emittieren,
weshalb diese Deutung manchmal als »Emissionstheorie« des Sehens bezeichnet wird.
Nach der zweiten Theorie werden Bilder zum Auge oder ins Auge gesendet, weshalb man
hier entsprechend von der »Immissionstheorie« des Sehens sprechen kann. Die dritte
Theorie kombiniert die ersten beiden und nimmt sowohl eine Einwärtsbewegung des
Lichts als auch eine Auswärtsbewegung der Aufmerksamkeit an.
Die Emissionstheorie des Sehens bestätigt unsere subjektive Erfahrung, dass das Se-
hen ein aktiver Prozess ist. Wir sehen die Dinge an und entscheiden selbst, wohin wir
die Aufmerksamkeit und unseren Blick richten. Sehen ist nichts Passives. Platon bejahte
diese Theorie des Sehens, und Euklid, berühmt für seine Werke zur Geometrie, arbeitete
um 300 v. Chr. die mathematischen Einzelheiten aus. Er zeigte auf, wie unser Sehen von
Spiegelbildern zu erklären sein könnte, nämlich durch Projektion virtueller Bilder aus
den Augen. Anders als das Licht selbst, das von einem Spiegel reflektiert wird, gehen
visuelle Projektionen nach Euklids Darstellung durch den Spiegel hindurch. Sie sind im-
materieller Natur.
Isaac Newton akzeptierte Euklids Theorie und illustrierte sie 1704 in seinem Buch
Opticks (Abbildung 14). Ungefähr die gleiche Darstellung wird noch heute in naturwis-
senschaftlichen Schulbüchern verwendet, und in einem typischen englischen Physikbuch
lautet der Text dazu so: »Von einem Punkt des Objekts ausgehende Strahlen werden vom
Spiegel reflektiert und scheinen von einem Punkt hinter dem Spiegel zu kommen, wohin
sie für das Auge verlängert werden, um sich dort zu schneiden.« [386] Es wird in diesem
Zusammenhang freilich nicht erörtert, wie dieser Anschein für das Auge entsteht oder
wie es die Strahlen verlängert. Es handelt sich im Wesentlichen um Euklids Emissions-
theorie virtueller Bilder, aber die Implikationen bleiben implizit.
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