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Zwillinge
»Erbe und Umwelt« - die relative Bedeutung dieser beiden Faktoren für die Entwicklung
des Menschen ist nicht nur eine wissenschaftliche, sondern auch eine politische Frage.
Tatsächlich überschattet die Politik die Wissenschaft auf diesem Gebiet seit der Mitte des
neunzehnten Jahrhunderts. So predigte der liberale englische Philosoph John Stuart Mill
(1806-1873) ein Fortschritts-Evangelium, demzufolge die menschliche Natur durch polit-
ische und wirtschaftliche Reformen, die ein neues Umfeld schaffen würden, verändert
werden könne. Seine Ideen übten einen beträchtlichen Einfluss auf progressive polit-
ische Bewegungen wie Sozialismus und Kommunismus aus.
Demgegenüber argumentierte Francis Galton, Charles Darwins Cousin, sehr
entschieden für die ausschlaggebende Bedeutung der Erbanlagen. In seinem 1869 er-
schienenen Buch Hereditary Genius (Genie und Vererbung) vertrat er die Ansicht, ihre
hohe Stellung verdankten die vornehmsten britischen Familien mehr ihrer Geburt als ihr-
er Erziehung.
Galton war sich darüber hinaus bewusst, dass eineiige Zwillinge für die Frage von
Erbe und Umwelt ein geeignetes Studienobjekt waren. Eineiige Zwillinge, sagte er, seien
von ähnlicher Erbanlage, während zweieiige Zwillinge einander nur so ähnlich wie nor-
male Geschwister seien. Er stellte bei eineiigen Zwillingen hinsichtlich einer ganzen
Reihe von Merkmalen erstaunliche Übereinstimmungen fest, die bis zum Eintritt einer
Krankheit, ja sogar des Todes reichten. [320]
Seine Gedanken zur Frage der Vererbung wurden von manchen politischen Denkern
zur Rechtfertigung des britischen Klassensystems herangezogen, und Galton selbst
schlug vor, der Staat solle die Fruchtbarkeit der Bevölkerung in die rechten Bahnen
lenken, nämlich im Sinne einer Verbesserung der menschlichen Natur durch selektive
Zucht, wofür er den Namen Eugenik prägte. Die eugenische Bewegung wurde zunächst
in der Vereinigten Staaten sehr einflussreich, wo sie eine große Anhängerschaft hatte,
aber ihren Gipfel erreichte sie im nationalsozialistischen Deutschland. Es ist kein Zufall,
dass nationalsozialistische Wissenschaftler sich ebenfalls sehr für Zwillinge interessier-
ten. Auch der berüchtigte KZ -Arzt Josef Mengele betrieb im Vernichtungslager
Auschwitz mit Vorliebe Zwillingsforschung; eineiige Zwillinge wurden zu diesem Zweck
in besonderen Baracken gehalten. Zu einem seiner Kollegen sagte Mengele einmal: »Es
wäre eine Sünde, ein Verbrechen … die in Auschwitz gegebenen Möglichkeiten der Zwill-
ingsforschung ungenutzt zu lassen. Eine Gelegenheit dieser Art wird sich nie wieder bi-
eten.« [321]
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