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Eine Struktur war ihm eine Gewohnheit, und in einer Gewohnheit bekundeten sich
nicht nur innere Bedürfnisse, sondern auch äußere Kräfte, an die der Organismus
sich wohl oder übel gewöhnen musste … Unter diesem Gesichtspunkt hätte er sein
Buch auch Von der Entstehung der Gewohnheiten statt Von der Entstehung der
Arten nennen können. [313]
Nur wusste leider niemand zu sagen, wie erworbene Eigenschaften vererbt werden. Dar-
win versuchte eine Deutung: In seiner Pangenesis-Hypothese vertrat er die Ansicht, dass
alle Teile des Körpers winzige Gemmulae (»Keimchen«) absonderten, »formative Mater-
ie«, die sich im ganzen Körper verteilt und vervielfältigt, um sich dann in den Knospen
der Pflanzen und in den Keimzellen zu sammeln, von wo aus sie an die Nachkommen
weitergegeben wird. [314]
Die neodarwinistische Evolutionstheorie, die im zwanzigsten Jahrhundert zur
vorherrschenden Lehrmeinung wurde, verwarf die Vererbung erworbener Eigenschaften
zugunsten der genetischen Vererbung. Lamarcksche Vererbung war fortan Ketzerei.
In der Sowjetunion war dagegen die Vererbung erworbener Eigenschaften von den
dreißiger Jahren bis in die sechziger Jahre die herrschende Lehrmeinung. Forschungen
unter der Federführung von Trofim Lysenko schienen für die Lamarcksche Vererbung
zu sprechen. Hinter Lysenkos Meinungsmacht stand Stalin, und die Verfechter des ge-
netischen Denkens wurden verfolgt, manche sogar umgebracht [315] - was natürlich den
Westen nur in seiner ablehnenden Haltung gegenüber der Vererbung erworbener Ei-
genschaften bestärkte. Die eigentlich wissenschaftliche Frage nach der Natur der Ver-
erbung wurde stark politisiert, und dementsprechend beherrschten Ideologien und nicht
wissenschaftliche Fakten die Auseinandersetzung.
Die Tabuisierung der Vererbung erworbener Eigenschaften begann erst um die
Jahrtausendwende zu bröckeln. Der Gedanke, dass erworbene Eigenschaften tatsächlich
erblich werden können, findet immer mehr Zustimmung. Man spricht heute von »epi-
genetischer« oder außergenetischer Vererbung. Bei manchen Arten von epigenetischer
Vererbung spielen chemische Anhängsel der Gene, insbesondere Methylgruppen, eine
Rolle. Gene können durch Methylierung der DNA oder der an sie gebundenen Proteine
»abgeschaltet« werden.
Das ist ein rasch wachsendes Forschungsgebiet, und es gibt inzwischen zahlreiche
Beispiele für epigenetische Vererbung bei Pflanzen und Tieren. So können Giftstoffe über
Generationen Nachwirkungen haben. In einer Studie wurden trächtige Ratten einem in
der Landwirtschaft üblichen Fungizid ausgesetzt, wodurch bei ihren männlichen Nach-
kommen die Entwicklung der Hoden Schaden nahm, so dass später bei ihnen die Sper-
mienzahl vermindert war. Deren männliche Nachkommen zeigten jedoch ebenfalls eine
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