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Immaterielle Formen
In der Antike wird kaum jemand angenommen haben, dass die äußere Gestalt eines
Akanthusgewächses oder eines Falken allein über den Samen oder das Ei vererbt wird.
Für Platoniker war die Form aller Lebewesen der Idee oder transzendenten Form der
Art nachgebildet. Moderne Platoniker wie René Thom sehen das ähnlich. Für sie ist die
Gestalt eines Lebewesens eine Art mathematische Idee, die sich in dem physischen Lebe-
wesen, ob Pflanze oder Tier, »verdinglicht«. Das mathematische Modell eines Akanthus
liegt nicht in seinen Genen, sondern in einer Raum und Zeit transzendenten mathem-
atischen Sphäre. Von Menschen entworfene mathematische Modelle sind lediglich An-
näherungen an diese mathematischen Archetypen.
Platons Schüler Aristoteles war anderer Meinung. Die Form einer Art war für ihn keine
Idee außerhalb von Raum und Zeit, nicht transzendent, sondern immanent. Die Körper-
form eines Lebewesens war für Aristoteles in seiner Seele angelegt, von wo aus seine
äußere Gestalt gleichsam zu ihrer voll entwickelten Form hingezogen wurde. Dadurch
war die Seele sowohl Formursache als auch finale Ursache, sie enthielt den End- oder
Zielpunkt, zu dem der Organismus hingezogen wurde.
Im europäischen Mittelalter war Aristoteles' Philosophie in ihrer Ausprägung durch
Thomas von Aquin die Basis für das allgemein akzeptierte Verständnis von Kausalität.
An jedem Prozess der Veränderung, etwa dem Wachsen eines Baums aus einer Nuss,
waren vier Arten von Ursachen beteiligt. Die materielle Ursache war die Materie, aus
der die Pflanze entstand, die Nuss und alles, was sie im Verlauf ihres Wachstums aus
der Umgebung aufnahm, zum Beispiel Wasser und die Nährstoffe des Bodens. Die be-
wegende Ursache war die aus dem Sonnenlicht stammende Energie, die den Prozess an-
trieb. Die Formursache war das in der Pflanzenseele liegende Prinzip, das ihre äußere
Gestalt bestimmte. Die finale Ursache schließlich war das Ziel der Pflanzenentwicklung,
nämlich der reife Baum, der wiederum Nüsse ausbildet und sich so vermehrt.
Betrachten wir die vier Arten von Ursachen an einem weiteren Beispiel, dem Bau eines
Hauses. Zum Bau eines Hauses braucht man Baumaterial wie Ziegelsteine und Mörtel.
Sie stellen die materielle Ursache dar. Damit alles richtig an Ort und Stelle plaziert wird,
bedarf es des Einsatzes der Bauarbeiter und ihrer Maschinen - sie bilden zusammen die
bewegende Ursache. Wie dabei zu verfahren ist, gibt der Plan des Architekten vor, der
folglich die Formursache darstellt. Und all das geschieht, weil da jemand ist, der Geld
ausgibt, um in diesem Haus leben zu können; das ist der Zweck oder die finale Ursache.
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