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geschnitten und poliert. Ein Jahr nach der Inbetriebnahme der Fabrik begannen die
wachsenden Kristalle in den Becken Bildungsfehler aufzuweisen: Es hafteten
Kristalle einer anderen Art an ihnen, und die wuchsen sogar noch schneller. Dieser
Fehler breitete sich schnell auch auf den anderen Betrieb aus, wo die geschnittenen
und polierten Kristalle Oberflächenfehler ausbildeten … Die angestrebten Kristalle
waren das Anhydrid des Äthylendiamintartrats, und die unerwünschten Gewächse er-
wiesen sich als das Monohydrat dieses Stoffs. Während der drei Jahre der Forschung
und Entwicklung und im ersten Jahr der Produktion hatten sich keine Monohy-
dratkeime gebildet, doch danach waren sie plötzlich überall. [204]
Die Autoren dieses Berichts vermuten weiterhin, dass Kristallformen, die bei uns gang
und gäbe sind, auf anderen Planeten möglicherweise noch gar nicht aufgetreten sind. Sie
fügen hinzu: »Vielleicht sind auch bei uns viele Spezies von festen Stoffen noch unbekan-
nt, und nicht weil die Zutaten fehlten, sondern weil einfach die geeigneten Kristallisa-
tionskeime noch nicht aufgetreten sind.« [205]
Dass eine Modifikation eines Stoffes eine andere verdrängt, ist in der pharmazeut-
ischen Industrie ein wohlbekanntes Phänomen. So wurde das Antibiotikum Ampicillin
zuerst als Monohydrat kristallisiert, bei dem auf ein Molekül Ampicillin ein Molekül
Wasser kommt. Von den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts an kristallisierte
Ampicillin zunehmend als Trihydrat, das auch eine andere Kristallform aufwies - und
trotz aller Bemühungen konnten keine Monohydratkristalle mehr gezüchtet werden. [206]
Ritonavir, ein von der Firma Abbott Laboratories entwickelter Arzneistoff gegen Aids,
hatte 1996 seine Markteinführung. Als das Mittel eineinhalb Jahre auf dem Markt war,
stellten die Chemietechniker eine bis dahin unbekannte Kristallmodifikation fest.
Niemand wusste, was die Veränderung bewirkt haben mochte, und es gelang auch
nicht, die Bildung der neuen Modifikation zu unterbinden. Schon wenige Tage nach
der Entdeckung beherrschte die neue Form die gesamte Produktion. Die beiden Modi-
fikationen waren zwar chemisch genau gleich, aber die neue Form war um die Hälfte
schwerer löslich, was bedeutete, dass die Patienten bei normaler Dosierung nicht genü-
gend Wirkstoff aufnahmen. Abbott musste Ritonavir vom Markt nehmen und setzte alles
daran, die ursprüngliche Kristallform wiederherzustellen. Das gelang auch schließlich,
aber es war nicht zu erreichen, dass sich zuverlässig nur diese Kristallform bildete: Es
entstanden immer Mischungen der beiden Modifikationen. Schließlich entschloss man
sich, das Mittel künftig in Form einer Kapsel zu verabreichen, in der es in Lösung gehal-
ten werden konnte. Das ganze langwierige Verfahren kostete Hunderte Millionen Dollar,
ganz abgesehen von den Umsatzeinbußen (250 Millionen Dollar) während der Zeit, in der
das Medikament vom Markt genommen war. [207]
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