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ihrem Tablett in der Hand auf einen Platz warteten. Der Kaffee wurde kalt, bevor sie sich setzen konnten.
Geduldig standen sie da und versuchten, nicht allzu gierig auf die Sitze zu starren.
Die Sitzenden brachten es jedoch fertig, die Wartenden völlig auszublenden. Ihr Kaffee war längst leer,
sie lasen noch genüsslich ein Kapitel in einem Buch, zogen langsam an ihrer Zigarette. Sie schrieben auf
ihremNotebookoderhörtenmitihremMusikspielerineinneuesAlbumhinein.WäreeineKameranurauf
die Sitzenden gerichtet gewesen, es wäre nicht zu erkennen gewesen, dass gleich daneben zwei Dutzend
Leute warteten.
AlsichmeinenCappuccinoausgetrunkenhatte,sagteich:»Komm,lassunsaufstehen,dawartensoviele
Leute«, doch Akiko schaute mich völlig verblüfft an. »Warum sollten wir aufstehen, nur weil da Leute
warten?«
In der U-Bahn ist es morgens wirklich unwahrscheinlich eng. Manchmal muss ich einen Arm über den
Kopf nehmen, weil er seitlich keinen Platz mehr hat. Irgendwie quetschen alle noch ihre Aktentaschen
dazwischen.InderMarunouchi-LiniedrängtemichdieMengeeinesMorgenssoaneineHaltestangeindie
Ecke, dass es richtig weh tat. Das ließ sich nur aushalten, weil alle frisch geduscht in tadelloser Kleidung
unterwegs waren, was sich vom Berliner U-Bahn-Publikum nicht durchweg sagen lässt.
Auf Höhe des Hauptbahnhofs bekam ein Mann in der Mitte des Wagens einen Anfall von Platzangst.
Er zitterte, stotterte einige Worte und kauerte sich zwischen die Leute auf den Boden. Die Menge hätte
ihn vermutlich totgetrampelt, wenn er nicht einen Bekannten dabeigehabt hätte. Er musste ein Freund oder
Bekannter sein, denn außerhalb ihrer Gruppe verhalten sich Japaner meistens nicht hilfsbereit. Der Helfer
schob den Zitternden an der nächsten Station aus dem Wagen und in eine Ecke neben der Treppe, wo er
sich zitternd hinkauerte. Ich musste dort auch aussteigen. Um die Szene noch beobachten zu können, zog
ich gemächlich einen Tee aus dem nächsten Automaten. »Es ist alles in Ordnung«, beteuerte der Kauernde
gegen allen Anschein von unten herauf. Japaner sind konditioniert, immer erst mal zu sagen, es sei alles in
Ordnung. »Ich habe eine Angststörung«, gab er dann doch noch zu.
Außer mir schien sich keiner für die Szene zu interessieren. Ich habe gesehen, wie Leute sich ans Herz
griffen und zusammenklappten, während die Menschen daneben einfach weiterströmten und den Kranken
an den Rand drängten. Es waren stets Leute in Uniformen, etwa U-Bahn-Angestellte, die etwas unternah-
men.VielleichtspieltdiechristlicheTraditioninEuropawirklicheineRolle.JedenfallshabeichalsAußen-
seiterschonöfterLeutegefragt,obichihnenhelfenkonnte,währenddieJapaneralleeinfachweitergingen.
InderHälftederFällemachteichmichjedochzumDeppen.»Wasistlos?BrauchenSieeinenArzt«,fragte
ich eine junge Frau im Chanel-Kleidchen, die spätabends am Bahnhof Shinjuku auf der Treppe zusam-
mensank.
Sie schielte einige Sekunden unstet zu mir herauf.
»Alles in Ordnung«, lallte sie. »Ich bin bloß besoffen.«
Das alles zusammengenommen bin ich mir manchmal nicht so sicher, ob ich Japan wirklich mag. Umso
mehr Sorge machten mir die Anzeichen der eigenen Japanisierung. Den größten Schrecken jagte mir die
VeränderungimLaufstilein.WennJapaneraufeineFußgängerampelzuhasten,diegeradeaufRotzuschal-
ten droht, halten sie ihre Arme eher gerade an den Seiten statt sie abgewinkelt schwingen zu lassen. Das
führt zu einer etwas unpraktischen Bewegungsweise.
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