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Japan schätzt Menschen am meisten, deren Kompromisslosigkeit sie in den Abgrund führt. Und die am
Ende nichts vorzuweisen haben. Die größte Ehrfucht heben sie sich für Helden auf, deren Kampf sinnlos
war. Ich denke da an Leutnant Hirō Onoda, der 1974 aus einem Dschungelversteck auf den Philippinen
auftauchte. Erhatte seit 1945die Augen davorverschlossen, dass Japan denKrieg verloren hatte. Als kais-
erlicherSoldatbefolgteerweiterdenBefehl,dieInfrastrukturaufeinerstrategischwichtiggelegenenInsel
zu sabotieren und sich ansonsten ohne Hilfe durchzuschlagen. Selbst als Flugzeuge über der Insel Briefe
seiner Familie abwarfen, die ihn ums Aufgeben anflehten, hielt er die Dokumente noch für eine besonders
ausgefeilteListderAmerikaner.ErsteinjapanischerStudent,derihmalsRucksackreisenderamRandedes
Urwalds begegnete, konnte ihn von den Änderungen im Weltgeschehen überzeugen.
Der Student wusste erst gar nicht, mit wem er es zu tun hatte, und sagte fröhlich, er wandere durch
die Philippinen und durch Tibet, um »vielleicht Leutnant Onoda oder den Yeti zu sehen«. Dass Onoda
noch lebte, war in Japan bekannt. Er hatte regelmäßig die Telefonleitungen der philippinischen Bewohner
durchgeschnitten. Selbst als der Rucksack reisende ihm erklärt hatte, dass der Krieg wirklich aus sei,
musstenocheinOberstderneuenjapanischenArmeeanreisenundihmdenBefehlzurKapitulationgeben.
Das ist der Geist des »Gambare!«, der Aufopferung.
Die Japaner bereiteten Onoda bei seiner Rückkehr einen Empfang als Held. Das war 29 Jahre nach
Kriegsende. Seine ersten Worte in Tokio waren schluchzend: »Ich bin so froh, dass der Krieg aus ist!«
Wenn ich Kenji wochentags zum Mittagessen traf und er an seinen Arbeitsplatz zurückmusste, verab-
schiedeten wir uns (wie in Japan üblich) mit: »Streng dich an!«, »Shigoto Gambatte!« Das ist in Japan zu
dieser Tageszeit ein weit verbreiteter Gruß. Wo wir auf Deutsch vielleicht »Viel Spaß« oder »Mach's gut«
wünschen,sagendieJapaner: »Bitte strengdichan«oder»GebenSiesichbitte Mühe!«ZwareineFloskel,
deren Sinn kaum noch einer hinterfragt, aber dennoch bezeichnend.
JapanzeigtsichaußerdemausdeutscherSichteinerseitsverblüffendordentlichundandererseitsverblüf-
fend chaotisch. In Fukui wunderte ich mich über die Papierstapel, die vollen Aschenbecher und das Ger-
ümpel alter Elektrogeräte im Großraumbüro der Univerwaltung. Damals dachte ich noch, diese Landuni-
versität sei besonders schlecht organisiert. Inzwischen habe ich Büros im Finanzministerium und bei
Toyota gesehen, wo die gleichen Papierstapel sich bedenklich über den Köpfen der Mitarbeiter ge-
geneinanderneigten. Der Chef der deutschen Transportfirma DHL in Japan sagte mir, dass er einmal die
Woche selbst durch die Großraumbüros gehe und die Leute zum Aufräumen und Abheften antreibe. In
meinem Postamt quollen allerlei Schachteln und Papierstapel hinter den Schalterangestellten aus offenen
Schränken. Wenn ich eine Schnellsendung nach Deutschland aufgab, dann suchte der Mann umständlich
zwischen Pappdeckeln nach dem nötigen Formular.
Bei einem Mittelständler in Fukui, den ich für eine Recherche besuchte, lief die komplette Buchhaltung
noch auf Papier und per Hand. Einige PCs standen da zwar, aber die galten der Frau des Besitzers nur als
bessere Schreibmaschinen. »Wollen Sie nicht vielleicht eine Unternehmenssoftware anschaffen?«, fragte
ich. »Nein, das läuft bestens so, wie wir das immer gemacht haben. Mit Computern hat man doch nur
Scherereien«, sagte sie, klagte aber noch am gleichen Tag über ihre 60-Stunden-Arbeitswoche: »Wir
machen nie Urlaub, weil wir die Fima nicht allein lassen können.«
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