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Die Konkurrenz mit dem Westen hat Japan einiges von seiner heimeligen Atmosphäre genommen. (Für
das einfache Volk war's übrigens ohnehin nicht so toll. Ein Samurai durfte straflos einen Bauern köpfen,
um ein neues Schwert auszuprobieren.) Die Betonung von Kreisläufen, von menschlichen Beziehungen,
von Ästhetik ist ganz klar die Arbeit der rechten Gehirnhälfte. Eine stärkere Aktivierung der rechten Ge-
hirnhälftewürdeauchdiehoheAufmerksamkeitderJapanerimpersönlichenUmgangerklären.»Geistver-
teilung«,nennensiedas.MitderrechtenSeitedesHirnsversetzenwirunsinandereMenschenhinein.Wer
gutenZugriffdaraufhat,merktbeispielsweise schneller,dassdemGastamTischdieSojasoßezuweitweg
steht - auch wenn der vor lauter Höflichkeit nicht danach zu fragen wagt.
Nippon scheint außerdem weiblicher zu sein als der Westen. Kein Wunder,schließlich klappt bei Frauen
die Verständigung zwischen den beiden Gehirnhälften besser. Die moderne japanische Kultur erlaubt es
Frauen immer noch, femininer zu sein als westliche Frauen. Das spiegelt sich auch in der Kleidung wider:
Rüschen, Applikationen, unpraktische Röcke und Schühchen. Der Otto-Versand muss in Japan völlig an-
dere Damenkleidung ins Programm nehmen. Der Japan-Chef des Unternehmens erklärte mir: »Deutsche
Frauen wollen sportlich wirken, japanische Frauen niedlich.«
Die Fähigkeit, immer auch das große Ganze im Blick zu behalten, macht die Japaner auch enorm großzü-
gig. Wenn es ans Bezahlen im Restaurant geht, sehen sie nicht nur die Rechnung. Gerade wenn ein
Ausländer dabei ist, spielen plötzlich auch die globalen Beziehungen eine Rolle. Für Anfänger ist es daher
schwer, mal mit dem Bezahlen zum Zuge zu kommen.
Wenn ich als Korrespondent Gesprächspartner einlade, vereinbare ich möglichst schon beim Hineinge-
hen mit den Leuten vom Restaurant, dass ich hinterher auch bezahle. Der Witz daran ist, dass die Japaner
sich gerne einladen lassen. Sie zieren sich bloß so schrecklich.
InmeinenerstenWochenalsKorrespondentbedeuteteeseinenErfolg,zumerstenMaleineRechnungzu
erobern, obwohl ich nicht selbst reserviert hatte. Nachdem der Kellner das kleine Clipboard mit dem Kas-
senstreifen auf den Tisch gelegt hatte, behielt ich es fest im Auge. Ich legte meine Hand entspannt in eine
guteStartpositionfürdenZugriff.AlsmeinGegenüber,einBeamterdesFinanzministeriums,nurleichtmit
dem Handgelenk zuckte, schoss mein Arm vor und schnappte die Rechnung. Ich warf meinem Gesprächs-
partner auf dem Weg zur Kasse einen triumphierenden Blick zu, und er nickte anerkennend zurück.
Dadurch dass Japaner so auf »Geistverteilung«, also Umsicht, gedrillt sind, geben sie dem Ausländer auch
Rätsel auf. Beim Verlassen des heißen Bades scheint sich keiner abzutrocknen. Doch im Umkleideraum
steht auch nie jemand triefend da. Eine Weile fragte ich mich, ob japanische Haut das Wasser besser ab-
weist. In Wirklichkeit trocknen sie sich mit ihren winzigen Handtüchern so unauffällig und nebenbei ab,
als wäre es unanständig, sich richtig abzurubbeln.
Ähnlich liegt das Grüntee-Paradoxon. Überall im Land verkaufen Hunderttausende von Getränkeauto-
maten täglich Millionen von Getränkeflaschen, hauptsächlich mit grünem Tee. In der Öffentlichkeit lässt
sich aber kaum jemand beim Trinken erwischen. Vermutlich schließen die Japaner sich nachts im Klo ein,
um die Flaschen zu leeren.
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