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Beim Feiern ihrer religiösen Feste verhalten sich die Japaner besonders extrem: In Kenjis Wohnort Kawa-
saki trägt jedes Jahr eine entfesselte Menge die Heiligtümer des Kanayama-Schreins beim Phallusfest
durchdieStraßen.DerSchreinistaufProstitutionundFruchtbarkeitspezialisiert.DieseKombinationzieht
ein sehr unterschiedliches Publikum an. Auf der einen Seite kommen zeugungswillige Ehepaare, auf der
anderen Seite professionelle Frauen. Aufgrund der besonderen Form der heiligen Objekte des Schreins
ziehtdasFestauchdieKamerasderFernsehsenderan.BeimHauptumzugtragendieGläubigeneinenzwei
Meter hohen Penis an den Schaulustigen vorbei. Straßenverkäufer bieten Lollis in Phallusform an, die von
kleinen Kindern bis zur alten Oma alle begeistert lutschen. (Wirklich! Ich gebe nur wieder, was alljähr-
lich in Kawasaki los ist.) Kleine Büdchen verkaufen Rettiche und Möhren, die in die entsprechende Form
geschnitzt sind.
In einem Nebengebäude findet sich im Obergeschoss eine heilige Vagina auf zwei Beinstummeln aus
Blech. Wer im Amulettgeschäft im Erdgeschoss ein Penisfigürchen kauft und ihn dagegenreibt, erhöht
seine Potenz und Fruchtbarkeit. Der frisch verheiratete Kenji verlor jedoch aus Ungeschicklichkeit sein
Amulett in dem Loch. »Passen Sie doch bitte besser auf, jetzt müssen wir das wieder hervorfischen«, sagte
die Aufseherin. »Sie sollen ihn doch nur reiben, nicht hineintun! Sonst wird das nichts mit der Frucht-
barkeit.«
Eigentlich gelten Japaner ja als berührungsscheu. Auf diesen Extremfesten scheinen sie jedoch geradezu
verzweifelt nach Körperkontakt zu suchen. Die religiösen Feiern sind bloß ein Vorwand, um sich nur mit
einemLendentuchbekleidetineinbarbarischesGewühlzustürzen.AufdemDairokuten-Nacktfestwälzen
sich die Gläubigen dicht an dicht in einem Schlammpfuhl. Im ganzen Lande baden sich Männer auf ver-
schiedenen Feiern fast nackt in eiskaltem Meer- und Seewasser. Vermutlich rettet ihre große Anzahl ihnen
dasLeben.WieimmerbleibensieinderGruppeengzusammengedrängt. InderMitteistesdannvielleicht
gar nicht mehr so kalt.
An Neujahr ging ich mit Kenji und einer Besucherin aus Deutschland, Petra, zum »Tempel des großen
Buddha-Lehrers« in der Nähe von Kenjis Wohnort. »Der Kawasaki Daishi wirkt besonders glücksbring-
end«, versicherte Kenji. Die Wunderkräfte des Daishi seien in ganz Japan bekannt. Der Besuch wurde zum
LehrstückfürjapanischeOrganisationundDisziplinbeiderDurchführungeinesGroßereignisses.Späterin
den Nachrichten hörte ich, dass dieses Jahr knapp drei Millionen Menschen den Kawasaki-Daishi besucht
hatten. Schon beim Aussteigen aus der zum Bersten vollen S-Bahn steuerten Polizisten mit lauten Durch-
sagen den Menschenstrom.
Links und rechts des Wegs standen Buden mit bunten Baldachinen, die den üblichen Volksfestkram an-
boten: gebackene Oktopusklößchen oder Kuchen in Form von Pokemon für Kinder, aber auch Handlesen
oder Fischefangen. In der Mitte der Straße hatte die Polizei ein Seil gespannt: Linksverkehr.
Die Menschenschlange schob sich dicht an dicht zwischen Einfamilienhäusern bis zum »Berg-Tor« des
Schreins weiter. Über dem Tor hatte sich eine uniformierte Mitarbeiterin des privaten Sicherheitsdienstes
auf einer Plattform mit Lautsprecheranlage positioniert. »Bitte bewahren Sie Ordnung, und rücken Sie nur
langsam vor. Bleiben Sie innen nicht stehen, drehen Sie sich nicht um, und halten Sie nicht zum Foto-
grafieren inne. Der Rauch in der Platzmitte ist wundertätig.«
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