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Kenji dagegen marschierte am nächsten Nachmittag in den Badebereich, ignorierte die Waschwasser-
hähne, spülte seinen Körper nur mit zwei Kellen Wasser ab und stieg ins Gemeinschaftsbecken. Ich war
entsetzt, zog mich auf einen Waschhocker zurück und machte die Seifenzeremonie noch gründlicher und
auffälliger als sonst. Es sollte nicht der leiseste Verdacht auf mich fallen. Eine Viertelstunde später glitt ich
nebenKenjiinsWasserundlegtemirmeingutausgewaschenesMinihandtuchaufdenKopf.»Duhastdich
gar nicht abgewaschen!«, warf ich ihm vor.
»Wieso, wir waren erst vor ein paar Stunden am Berg in den heißen Quellen. Da reicht es doch, wenn
ich ein paar Kleiderfussel vom Körper wasche.«
Ichwaretwasbeleidigt.AlsobichjedesMaldreckiggewesenwäre,wennichmichvordemBadennoch
viermal gewaschen hatte.
Aber wenn ein Ausländer da reinmarschieren und einfach ins Wasser gehen würde, da würden alle den-
ken: Der kennt sich nicht aus, wie ekelhaft, heiße Bäder sollten für Fremde verboten werden. Gerade die
älteren Herren lauerten doch nur auf so was. Bildete ich mir zumindest ein.
»Das mit dem Handtuch auf dem Kopf ist putzig, das machen sonst doch nur Opas«, sagte Kenji.
»Hier ist keine Stelle zum Ablegen des Handtuchs. Außerdem ist es völlig korrekt, es sich auf den Kopf
zu legen«, verteidigte ich mich.
»Trotzdem putzig.«
Ich entzifferte das Holzschild über dem Becken: »Dieses Wasser hilft gegen Hüftschmerzen, Schul-
terverspannung, orthopädische Unregelmäßigkeiten, Verdauungsprobleme, Hautunreinheit, Allergien,
Stoffwechselstörungen, Kreislaufbeschwerden, Veränderungen der Säfte und Nervosität.«
»Wusstest du, dass ein deutscher Arzt diese Art von Werbung für das heiße Wasser in Japan eingeführt
hat?«, fragte ich Kenji.
»Nö. Echt? Ich dachte, das hätte es schon immer gegeben.«
»Erwin Bälz kam nach Kusatsu und dachte gleich an Karlsbad. Nach diesem Vorbild erfand er all die
angeblich heilsamen Wirkungen des japanischen Vulkanwassers.«
Akiko war hier nicht dabei, denn sie war mit Sachiko und den anderen Frauen hinter dem roten Vorhang
für die Frauen verschwunden. Seit der Modernisierung Japans im 19. Jahrhundert - etwa seit der Zeit von
Erwin Bälz - badeten Frauen und Männer getrennt.
»Wir Japaner gehen mit Nacktheit viel lockerer um als Ihr Westler«, behauptete Kenji.
»Spinnst du? In Deutschland gehen Männer und Frauen zusammen in die Sauna. Und am Ostseestrand
liegen die Leute kilometerweit komplett unbekleidet«, sagte ich.
»Was? Ich dachte, Christus hätte Nacktheit verboten?«
Die Tokioter lieben auch Themenrestaurants mit viel Show. Dekorierte Läden mit verkleideten Kellnern
kommen ihrem Sinn für Rollenspiel und Verkleidung entgegen. Kaum eine Gruppe von deutschen
Großstädtern Mitte dreißig würde doch ernsthaft in ein Restaurant mit Gefängnisatmosphäre gehen. In
Tokio schlug Akiko genau das vor. Der Laden lag in Ikebukuro und hieß »Lock up«.
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