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Glück in der Familienplanung. Auf der Insel steht auch ein Leuchtturm mit Aussichtsplattform zum Foto-
grafieren. Nur wenige Schritte weiter findet sich wie immer ein Komplex mit Geschäften und Restaurants
und, klar, einem Videospielcenter. »Geschäfte und Restaurants«, das ist das häufigste Schild in der ganzen
Stadt.
HinterdemAusbauTokiosalsSpielplatzstehteinunbewussterWille,daswurdemiraufmeinenFahrten
durch die Stadt klar. Die Japaner wollen gar keine richtige Stadt, sie wollen einen Vergnügungspark. Viele
kleine Entscheidungen von Bauherren und Stadträten fließen zusammen, um ein Gesamtkunstwerk zu
schaffen - wie bei der Entstehung eines Ameisenhaufens. Asiaten verstehen Städte anders als Europäer.
Tokio erfindet sich laufend neu. Dazu tragen sicher auch die häufigen Erdbeben bei. Altehrwürdige mit-
telalterliche Städte wie Regensburg gibt es schon deshalb nicht, weil regelmäßig alles in Schutt versinkt.
Doch die Japaner warten nicht auf ihre Naturkatastrophen, um den Stadtumbau voranzutreiben. Wenn ein
Haus zehn Jahre steht, kommen oft schon die Kräne für den Abriss. Gerade hat im Geschäftsviertel zwis-
chen Hauptbahnhof und Kaiserpalast ein tolles neues Gebäude eröffnet, das vom Architekturstil her auf
alte, rostige Bronzetöne macht und die Geschäfte und Restaurants in Pavillons wie zur Weltausstellung
1900inParisunterbringt.WasinEuropaeinelangfristigeAttraktionwäre,musshierinwenigenJahrender
nächsten Idee weichen - das ist in Japan von Anfang an klar.
Die reale Welt geht in Tokio oft unmerklich in Scheinwelten über - ohne dass die Japaner einen
nennenswerten Unterschied zwischen dem einen und dem anderen bemerken. Im Shoppingcenter »Sun-
shine City« in Ikebukuro gingen wir Teigtäschchen im chinesischen Stil essen, also so etwas wie Wan Tan
in hundert Variationen. Die Gassen mit den Garküchen liegen jedoch tief in dem Gebäude verborgen in
derfensterlosenVergnügungswelt»NamjaTown«.SieimitiertdieAtmosphäreasiatischerStädtewieHong
Kong und Tokio in den Dreißiger- oder vielleicht Fünfzigerjahren. Vor den Läden hängen rote Laternen.
Hinter Vorhängen werkeln geschäftige Jungs im Yukata mit einem Tuch um die Stirn.
Das Geheimnis von Tokio liegt in der Ballung. Selbst an der Oranienburger Straße in Berlin, in der
Kölner Altstadt oder auf dem Kiez in Hamburg drängen sich nicht so viele Menschen wie in Roppongi
oderShimo-Kitazawa.GanzzuschweigenvomüberfülltenTeenagerfavoritenShibuyamitseinenmeterho-
hen Leuchtreklamen und versteckten Technoclubs. Oder den edleren Diskotheken von Aoyama, in die der
Mittdreißigergeht,nachdemerseineFreundinzueinemDinnerimbenachbartenLuxusviertelOmotesando
eingeladen hat.
Die Energie des ganzen Landes mit 125 Millionen Einwohnern konzentriert sich auf die Tokioter Innen-
stadt mit einem Durchmesser von dreißig Kilometern. Selbst innerhalb des Molochs sammelt sich alles
noch an bestimmten Orten. Die S-Bahnen sind morgens bis exakt halb zehn vollgepackt wie eine Box mit
Sushi, wie der Japaner sagt. In den Stunden darauf findet sich in den meisten Linien bequem ein Sitzplatz,
bisabendsderRückreiseverkehrderBüroangestelltenwiederanfängt.NachDienstschlusssinderstdieIza-
kayas in der Nähe der Bürotürme überfüllt, danach die Bars in den schmutzigeren Vierteln. Am Wochen-
ende strömen alle in die gleichen Einkaufsparadiese - in die jeweils neuesten.
Ich kapierte erst langsam, wie weit sich der Großraum Tokio wirklich erstreckt. Die Innenstadt mit den
Zentren entlang der Ringbahn konnte ich noch einigermaßen überschauen, auch wenn jede dieser Ge-
genden größer ausfiel als eine mittelgroße deutsche Stadt. Diese verschiedenen Stadtzentren erreichte ich
noch bequem mit dem Fahrrad. Von mir aus nach Shinjuku brauchte ich zwanzig Minuten, von dort zum
Tokioter Hauptbahnhof etwa eine gute halbe Stunde. Doch um den S-Bahn-Ring herum erstreckt sich die
Betonzivilisation inalle Richtungen weiter.DieStadtKawasaki, woKenjiwohnte,istmitdemExpresszug
zwanzig Minuten entfernt, aber dazwischen reißen die Häuser nicht ab.
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