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hielt also wieder für eine Stunde die Klappe und genoss die laute, vollelektronische Pu-der-Bär-Schau, die
der Disney-Konzern aus einem poetischen kleinen Kinderbuch der Zwanzigerjahre gemacht hatte.
Was eigentlich ist an Disneyland schlecht?, fragte ich mich. Warum würde ein deutscher Akademiker
nur unter Protest in eine Disneywelt gehen? Schlechte Löhne für einfache Arbeit zahlen praktische alle
Unternehmen. Ist Disneyland irgendwie zu amerikanisch? Die Walt Disney Company hat nicht den Irak-
Krieg angefangen, sondern liefert nur Unterhaltung. Auch der Effekt einer geistigen Verflachung lässt sich
vernachlässigen. Am Wochenende vorher war ich noch bei »Elfriede Jelinek - die unbequeme Nobelpreis-
trägerin. Vortrag und Gespräch« im Tokioter Goethe-Institut gewesen, befand mich in dieser Hinsicht also
außer Gefahr.
VermutlichsperrensichEuropäermehrgegendieVerführungdurchdieIllusion.JapanerliebendasSpiel
mit der Realität. Regierungschef Koizumi Junichiro war auf George Bushs Ranch als Elvis verkleidet auf-
getaucht, zum Schrecken des Gastgebers. Für solche Leute spricht eben auch nichts gegen eine ins Mon-
ströse vergrößerte und zugleich vereinfachte Version von Pu, dem Bären.
Und wenn schon Disney, dann Tokio. Kenner von Vergnügungsparks sind sich einig, dass Japan das be-
ste Disneyland der Welt hat. Die Mitarbeiter lächeln freundlicher, die Organisation läuft glatter als ander-
swo. Kein Wunder, denn im Aufbau von Scheinwelten macht den Japanern keiner etwas vor.
Die Schülerhorden hatten wir vermieden, aber mich wunderte immer wieder, was für Leute dorthin gin-
gen. Bestimmt die Hälfte der Besucher war Ende zwanzig, Anfang dreißig. Viele Paare in diesem Alter
kamen offenbar für ein Date her. Dazu kamen auch viele Endvierziger ohne Kinder. »Die hegen nostalgis-
che Gefühle für den Park«, vermutete Akiko. »Darauf wird es bei Kenji auch hinauslaufen.«
Der Betroffene hörte sie nicht. Kenji, 32 Jahre, in verantwortungsvoller Position bei einem Großun-
ternehmen, ließ sich gerade mit einer Donald-Figur fotografieren. »Prima, der hat mir noch für meine
Sammlung gefehlt«, kam er glücklich strahlend zu uns zurück gelaufen.
In den ersten Monaten in Tokio verwendete ich täglich viele Stunden einfach nur darauf, pünktlich zu
sein. Mein Abenteuerspielplatz zeigte sich plötzlich in stressiger Weise kompliziert. Viele Firmen, Min-
isterien oder Universitäten besuchte ich zum ersten Mal, und wenn ich den Weg nicht schon kannte, war
ich aufgeschmissen. Im riesigen Tokioter U-Bahn-Netz fahren zwar alle Bahnen pünktlich, doch wer nach
Ankunft zum falschen Ausgang hinausgeht, muss mehrere Kilometer Umweg in Kauf nehmen und verirrt
sich fast sicher. Ich nahm immer eine Reserve von einer guten Stunde mit, und die brauchte ich auch.
Auf dem Weg zu einem Mittelständler am Stadtrand stieg ich zunächst irrtümlich in einen Expresszug,
der an meinem Ziel vorbeiraste und mich erst mehrere Kilometer weiter hinausließ. Schließlich am richti-
genBahnhofangekommen,bemerkteichetwasSchreckliches.IchhattedenLageplannichtmitgenommen.
Ohne Karte war es in Tokio unmöglich, eine Adresse zu finden. Die Straßen haben in Tokio keine Namen.
Außerdem liegen die Hausnummern nicht nebeneinander. Auf Haus Nummer zwei folgt beispielsweise die
Nummer 57.
Ich starrte auf den Umgebungsplan im U-Bahnhof und versuchte, mir den Weg einzuprägen. Der Weg
vom Bahnhof zum Ziel stellte sich als viel weiter heraus als gedacht. In dem Hochhaus musste ich zudem
noch in den siebenundzwanzigsten Stock. Ich musste am Aufzug warten, während außer mir mehrere hun-
dert Mitarbeiter anderer Unternehmen hinauffahren wollten. So ging die Stunde Reserve locker drauf. Um
einen Termin um elf Uhr wahrzunehmen, ging ich um neun aus dem Haus.
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