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»Hnnnnnnn«, machte ich die erforderlichen Laute des Erstaunens.
»In dem Moment, wo wir die Unterscheidung zwischen uns und dem Weißkohl aufgelöst haben, er-
reichen wir die Erleuchtung«, erklärte er. »Und wenn es keine Unterscheidungen gibt, dann ist alles nichts.
Denn Dinge existieren nur durch ihre Abgrenzung von anderen Dingen, zumindest in unserer Illusion.«
DasVerständnis vondergrundlegenden Nichtigkeit derWeltwarfürmichfortanmitWeißkohlverbunden.
Irgendwann wagte ich eine knifflige Frage: »O-Shô-san, sind Sie selbst eigentlich erleuchtet?«
»Wenn ich jetzt sage, ich bin erleuchtet oder nicht erleuchtet, ist das schon ganz falsch«, sagte der
Priester fröhlich. So unklar endet es immer, wenn ein Zen-Meister eine klare Frage beantworten soll.
Kenji kam zu Besuch nach Fukui. Als ich ihn am Busbahnhof abholte, fiel mir der Blick auf, mit dem er
seineUmgebungbetrachtete.IchsahdenPlatzplötzlichmitdenAugendeselegantenTokioters.VorFukuis
Geschäftszeilen warenVordächerausgrobemWellblech angebracht. BraunroteRoststreifen liefenanihren
Stützpfeilernhinab.VieleGeschäftewarengeschlossenundhattengewellteRolllädenheruntergelassen,an
denen Fetzen von Aufklebern und Plakaten hingen. Japan ist eines der reichsten Länder der Welt, legt je-
doch nicht immer Wert auf Dekoration.
»Schönhier«,sagteKenji,undessollteunmissverständlichheißen:WasfüreintrostloserOrt.Dukannst
dankbar sein, dass ich aus Tokio, dem Nabel der Welt, hierher zu dir komme.
Miguel, Yusuke, Akiko und ich nahmen Kenji abends mit zu Yakitori bei Akiyoshi, einem Hühner-
spießchenladen. Yakitori-Restaurants stecken nicht einfach nur Fleisch auf Spieße. Sie verarbeiten prakt-
isch das ganze Huhn außer Kopf und Federn. Akiyoshi reichte auch Spieße mit Knorpel, Fett oder Anus.
Ergrillteauchsonstalles,wassichaufBambusspießchen steckenließ,etwaOkraschoten,Käsestückeoder
Lotoswurzeln. Dazu floss ständig Bier in eiskalt angelaufene Halblitergläser. Im Erdgeschoss bei Akiyoshi
saßen die Gäste an einer Theke rund um die drei riesigen Grills, aus denen rauchige Flammen in die Lüf-
tung schlugen. Hier standen acht junge Männer und grillten im Akkord, während sich zwei Mädchen um
die Gäste kümmerten - zehn fitte Leute, ständig in Bewegung.
Sie machten einen Riesenlärm. Wenn ein Gast kam, riefen alle zehn im Chor: »Willkommen!« Bestellte
einer »sechs Spieße Schweinezunge!«, dann rief das Bedienmädchen aus vollem Hals rechts zum Sch-
weinebrater »Shun! Sechsmal Zunge!«, dann nach links: »Hiro! Sechsmal Herz!« - Jeden dieser Aufträge
bestätigtenShun,Hirounddieanderenebensolautstark:»Ja,verstanden,sechsmalHerz!«Alsbestellender
Gast hatte ich immer das Gefühl, nur eine Nebenrolle in einer Aufführung von »Japanisches Restaurant«
zu spielen.
Die Männer trugen weiße Überwürfe, die ihre Arme frei ließen, kurze Schürzen über blauen Hosen und
ein Tuch um den Kopf. Teller gab es nicht. Die Brater legten die fertigen Spieße vor den Gast auf eine
Metallfläche, die um die Theke lief. Hin und wieder wischten sie die Fläche mit Alkohol ab.
»Na ja, für eine abgelegene Landstadt ganz beeindruckend«, sagte Kenji.
»Und gar nicht weit weg von der Uni«, pries ich mein Fukui an.
»Ja, die Uni ist auch ganz niedlich. Na ja, für dich als Ausländer dürfte es ja reichen.«
»Was meinst du damit?«
»Du bist in Deutschland ja an einer guten Uni mit bekanntem Namen eingeschrieben. Dann macht es
vermutlich nichts, wenn du ein Jahr in Fukui bist.«
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