Travel Reference
In-Depth Information
war bis auf den Beton hinunter abgenutzt. Wir schlichen in Socken die erste Treppe hinauf. Anders als im
Ausländerheim mussten die Bewohner hier ihre Schuhe am Eingang abstellen.
Die japanischen Studenten taperten in Trainingsanzügen und schlaffer Freizeitkleidung um uns herum
und schienen keine Notiz von uns zu nehmen, obwohl wir eigentlich hätten auffallen müssen wie ein Paar
blutbeschmierter Axtmörder im Mädchenpensionat.
Auf jedem Stockwerk klebten wir Zettel an die Wände: »Japanische Freunde gesucht«, mit unseren
Telefonnummern und E-Mail-Adressen. Es meldete sich keiner, aber bei unserer zweiten Expedition ins
Borg-Schiff sprach uns ein Student vor einem unserer Zettel an. »Schön, euch kennen zu lernen. Könnt
ihr sprechen?«, sagte Yusuke. »Ich habe eine Freundin, die unbedingt Englisch üben will. Die möchte ich
euch vorstellen.« Wir verabredeten uns für den späteren Nachmittag vor den Toren der Wohnheime. Auf
Yusukes gute Freundin Akiko mussten wir drei Jungs noch einige Minuten warten. An diesem Oktobe-
rabendbeleuchtetedieSonneunsereBetonwohnheimeineinemintensivenOrange.DiesesLichtgabihnen
einen fast poetischen Anstrich, wie auf realistischen Arbeitergemälden der Sowjetunion. Schließlich kam
Akiko um die Ecke, damals für mich noch irgendeine Japanerin in Jeans und T-Shirt, wir stellten uns kurz
vor und zogen zu viert los in Richtung Stadt.
Als Studenten konnten wir uns noch völlig unkompliziert anfreunden. Heute tausche ich mit neuen
BekanntschaftenzunächstumständlichstVisitenkartenundbenutzemonatelangsteifeHöflichkeitswendun-
gen, bis ein näheres Kennenlernen in Frage kommt.
Akiko studierte an der Uni Informatik, wollte aber unbedingt ihr Englisch verbessern und dafür
Ausländerkennenlernen.»WennduvonderUniFukuikommst,hastduohnegutesEnglischkeineChance
bei den Unternehmen in Tokio oder Osaka«, sagte sie.
Wir hatten unsere erste Bekanntschaft geschlossen. Damals war mir noch nicht klar, dass sie über
Jahrzehnte halten würde.
Wer exotische Fremdsprachen spricht, kommt früher oder später an den Punkt, wo es für Muttersprachler
lustig wird. Yusuke brachte ich besonders zum Lachen, als ich sagen wollte: »Ich trage es im deutschen
Blut«,wasvielleichtvonAnfangannichtdiegeschicktesteAusdrucksweisewar.Dochichbenutztezudem
die falsche Lesung des Schriftzeichens für Blut. Für japanische Ohren klang das Wort wie »Anus«.
Yusuke brauchte mehrere Stunden, um sich wieder einzukriegen. Nachdem er die Sache Akiko erzählt
hatte, hing mir der Satz als fortlaufender Witz an. »Das steckt Finn im äh … Blut …«
Seitdem sehe ich allen Asiaten ihre Nöte mit westlichen Sprachen nach. Ich kenne einen Chinesen,
Tommy, der in Düsseldorf in der Scheidtstraße wohnte. Er spricht sehr gut Deutsch, doch manchmal lässt
er kleinere Mitlaute unter den Tisch fallen. Eines Tages beklagte er sich beim Bier in der Kneipe: »Die
Tassifah-eh in Düssel-o-f sinn soo unfeunlich.« Es stellte sich heraus, dass ihn ein Taxifahrer nachts aus
seinem Auto herausgeschmissen hatte. Der Chinese hatte nur seine Adresse wiederholt. »Schei-straße,
Schei-straße«.
Tommyguckteverstört,alssichalleamTischjetzt wegwarfenvorLachen-außermir.DieNachsicht ist
mir in Fleisch und … Blut übergegangen.
Search WWH ::




Custom Search