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Die Jugendherberge in Kanazawa hatte erst wenige Wochen zuvor eröffnet. Der Herbergsvater führte
michstolzineinesseinermakellosenTatamizimmer.IchhattekeineReservierung,undesgabnurnochein-
eneinzigenfreienPlatz-imGemeinschaftsraummitneunanderenJugendlichen.Siegehörtenallezueiner
Gruppe von Nachwuchs-Kraftmenschen, denn in Kanazawa stand ein Jugendturnier der Sportart Sumo an.
Ich teilte mir das Neunerzimmer also mit Jungen zwischen 15 und 18 Jahren, die alle schon richtig rund
waren. Mit meinem Wörterbüchlein in der Hand reichte mein Japanisch nur für ein einfaches Gespräch.
Das bedauerte ich, denn ich hätte gerne mehr über Sumo gehört. Die Kraftmenschen redeten jedoch lieber
untereinander überdenWettkampf, die Hackordnung imSumo-Stall sowie Tricks undGriffebeim Ringen.
So viel glaubte ich an ihren Gesten zu erkennen.
Nachts fürchtete ich um mein Leben. Der Junge neben mir hatte einen Alptraum, schlug um sich und
geriet ins Rollen. Ausgerechnet in meine Richtung. Die anderen wussten vermutlich schon, warum sie
ihn auf seinen Futon an den Rand gelegt hatten. Zwischen ihm und der Wand lag jedoch noch ich, der
Ausländer. Glücklicherweise wachten die anderen auch auf, kümmerten sich um den schlechten Träumer
und entschuldigten sich bei mir. Später erfuhr ich, dass die harten Sitten beim Sumo-Training psychische
Schäden bei empfindlichen Jugendlichen hinterlassen können. Vielleicht hatte er deshalb Alpträume.
In Kanazawa wurde mir klar, dass ich vermutlich einige Tage vorher in dem kleinen Örtchen Tsuwano,
in den tiefgrünen Bergen bei Hiroshima einen Fauxpas begangen hatte. In Kanazawa verstand ich zum er-
sten Mal das japanische Wort für »Gemeinschaftszimmer« richtig. Hatte der Raum in der Herberge von
Tsuwano nicht auch so geheißen? Das Zimmer war nicht sehr groß gewesen, und ich hatte angenommen,
es sei ein Einzelzimmer für mich. Also hatte ich die Tür abgeschlossen. Als ich schon auf dem Futon lag,
hatte ich mich gewundert, dass ab und zu jemand am Knauf gerüttelt und etwas auf Japanisch gesagt hatte.
Es klang allerdings nicht sonderlich aufgeregt, ich ließ mich erst mal nicht stören. Meine potentiellen Mit-
bewohner waren jedoch anscheinend einfach zu höflich, um sich lauter zu beklagen.
Am nächsten Morgen beim Frühstück hatte die Wirtin zwar ganz normal mit mir über die Millionen von
Fröschen geplaudert, die im warmen Regen draußen quakten und eine außerirdische Atmosphäre schufen.
(»Stören die Frösche nicht den Reisanbau?«, suchte ich mir eine Frage zusammen. »Nein, die leben ganz
normal in den Feldern und fressen schädliche Insekten«, sagte sie.)
IhreHauptsorgewarjedochgewesen:»Siereisendochsofortwiederab,oder?-IchhabenämlichReser-
vierungen für das Zimmer.« Aber wer rechnet denn damit, dass der Gast sich eine Fläche von zwölf Tata-
mimatten auch noch mit jemandem teilen muss?
Auf der Rückreise aus dem Süden des Landes in die Region Tokio dachte ich über all die traditionellen
japanischen Häuser nach, die ich gesehen hatte. Sie sahen wunderschön aus, innen wie außen. Doch als
Bauwerke waren sie eigentlich nur bessere Bretterbuden. Dünne Wände, kaum armdicke Holzpfeiler, ein-
stöckig. Durch die lange Reihe von Glastüren mit Ozeanblick von Kenjis Familie pfiff bei Taifun-Wetter
klappernd der Wind. Im Winter blieb der größte Teil des Hauses kalt, wie die Leute erzählt hatten. Kein
Wunder,dassüberallimLandGebäudeimwestlichenStilauftauchten.Dawohnteessichpraktischer.Und
klimatisierter.
In der alten Kaiserstadt Nara staunte ich über die Tempel aus dem siebten Jahrhundert, bis mir klar wurde,
dass sie alle zwischendurch bei Erdbeben zerstört und hinterher neu aufgebaut worden waren. Trotzdem
bestürmten mich hier zwischen Buddhastatuen religiöse Einsichten, die ich in Notizbüchern festhielt. Als
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