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»… sondern München, wo auch Schloss Neuschwanstein liegt«, fuhr die Oma fort.
»Aber Obâ-san …«, sagte ihr Sohn. Er erklärte ihr etwas Längeres auf Japanisch, was sie mit einem ir-
ritierten und ungläubigen Blick quittierte, als wollte sie sagen: Lass den mal nur wieder reden. Sie kehrte
stattdessen zum Wesentlichen zurück. Herr Matsubara übersetzte ihre Frage: »Bist du verheiratet?«
Als ich verneinte, schaute sie missbilligend.
Kenjis ältere Schwester beschäftigte sich unterdessen mit dem, was japanische Frauen als ihre Pflicht
undBerufungansehen:emsigeHausarbeit.SieundihreMutterschnitteninderKücheFleischundGemüse.
DenMöhrenscheibengabensiedieFormvonhauchfeinen,geometrischdeckungsgleichenRechtecken.Die
Pilze erhielten auf dem Kopf eine dekorative sternförmige Einkerbung. Alles lag dann so geschmackvoll
ausgebreitet auf den Platten, dass ich es fast schade fand, den ganzen Segen einfach zu grillen. Glücklich-
erweise übernahm Herr Matsubara als Oberhaupt der Familie den brutalen Teil und schaufelte eine erste
Runde von Fleisch und Gemüse auf die heiße Platte. Was fertig gebrutzelt war, pickten wir uns mit den
Stäbchen heraus und tunkten es in verschiedene Soßen.
Herr Matsubara fragte mich, ob ich Student sei, und ich sagte, ich leiste meinen Militärdienst ab und sei
Soldat. Laute des Erstauens - schließlich ist Japan offiziell ein pazifistisches Land und kennt keine Wehrp-
licht. »Es ist völlig normal, erst mit 27 oder sogar über 30 mit dem Studium fertig zu werden und dann
langsam auf Arbeitssuche zu gehen.« Diese unvorstellbaren Geschichten über das exotische Deutschland
lösten Laute des Erstaunens bis zum Ende der Mahlzeit aus.
»Und jetzt ins Ofuro!«, befahl Mutter Matsubara nach Essen und Tee. In Atami sprudelte überall heißes
VulkanwasserausderBergflanke,unddasHausmeinerGastfamiliewarübereinRohraneineheißeQuelle
angeschlossen, die in einiger Entfernung unter einer Anlage aus Beton und rostigen Röhren dampfte. Im
Baderaum des Hauses lief eine im Boden eingelassene Holzwanne voll, in der wir uns abends nach dem
Duschen aufweichen konnten.
Die Familie lebte auch sonst ziemlich traditionell. Zum Frühstück stellte die Hausfrau Schalen mit Reis
auf den Tisch. Dazu gab es Miso-Suppe vom Vorabend oder eine Eierstich-Suppe aus der Fertigtüte. Jeder
aß außerdem eine Packung Nattô. Das sind handtellergroße Plastikschalen mit Bohnen, die durch Gärung
ein nussig-würziges Aroma erhalten. Manchmal gab es auf den Reis auch noch ein Stück Fisch oder ein
Spiegelei.
Die Mutter stand zwei Stunden vor allen anderen auf, richtete die Essenspackung für Schule und Büro
und bereitete das Frühstück vor. Sie fing vor sechs Uhr morgens an, den Reis zu waschen. Die Frauen
wenden in Japan enorme Kraft auf, um in einer Schüssel die Stärkehülle der Körner abzuschaben. Als ich
ihr erzählte, dass wir in Europa unseren Reis nicht waschen, machte sie Laute des Erstaunens. Das Ritual
hatte für sie auch etwas mit der geistigen Reinheit des Essens zu tun. Für mich sah es aus wie sinnlose
Arbeit.
Ich reiste für eine private Rundreise durchs Land ab. Kenji und seine Mutter brachten mich zum Bahnhof
und rieten mir, erst mal das Wichtigste einzukaufen: Bento, also eine Essenspackung. Das sind Kästchen
mit Reis und Köstlichkeiten aus Fisch, Fleisch und Gemüse. Am Bahnhof von Atami gab es zehn ver-
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