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student und rezitierte lakonisch in genuscheltem Französisch aus Baudelaires Prosage-
dichten »Le Spleen de Paris«.
Die passende Flasche dazu stand auf dem wackligen Holztischchen neben ihm. Sie
schimmerte sonderbar blau und enthielt ein Getränk, das im hinteren Teil des Raumes
auf einer Flamme von den Verbindungsstudenten erwärmt wurde.
Nie hätte ich gedacht, daß der Treibstoff der französischen Symbolisten, unter des-
sen Einfluß auch Chame Soutine seine verwegenen Farbphantasien auf die Leinwand
gepfeffert hatte, im 20. Jahrhundert noch existent sein könnte. Eine hübsche Studentin
im Psychedelic-Shirt mit Indianerzöpfen drückte mir sanft, aber bestimmt ein riesiges
Glas mit dem gerade erhitzten Getränk in die Hand. Sie sagte à tua , auf dein Wohler-
gehen, und verschwand in der Küche. Absinth? War das nicht eine Art mit Wurmholz
versetzter Pernod, dessen psychoaktive Wirkung einen in das Land der Verwegenheit
entführte? Ich sah mich in dem hölzernen Zimmer um, mein Blick ging an den mor-
schen Antiquitäten entlang, und mir war eigentlich sofort klar, daß das Getränk, casei-
ro , hausgemacht sein mußte. Also trank ich. Es schmeckte wie Zahnputzwasser mit
Anisaroma. Während »La chambre double« versuchte ich, mich ungesehen aus der Le-
sung zu stehlen.
Ich stand leise auf, verbeugte mich entschuldigend in Richtung des Lesers und ver-
ließ den Raum. Als ich im Untergeschoß vorbeiging, wo aus einem Kassettenrecorder
ein Velvet-Underground-Stück schepperte, sah ich die Squaw wieder. Sie hatte die Ar-
me ausgebreitet, schaute die Decke an und drehte sich gedankenverloren um sich
selbst. Ein kurzer Blick auf das wabernde Muster ihres sich drehenden T-Shirts machte
mir klar, daß ich schleunigst das Haus zu verlassen hatte, um frische Luft zu schnap-
pen. Draußen ging es rapide abwärts, auch räumlich gesehen. Auf den legendären que-
bra costas , den Rückenbrechertreppen, sauste ich dem Mondego entgegen, immer
schneller. Unten landete ich, bevor ich den Fluß auch nur erahnen konnte, in den Ar-
men einer zahnlosen Alten, die mich auffing und laut zu lachen begann. Entsetzt de-
klamierte ich die einzigen Worte, die mir an diesem Abend noch geblieben waren, den
Schlußvers Baudelaires: »Vorwärts! Alter Narr! Schwitze, Sklave! Lebe, Verdammter!«
Dann wurde es Nacht.
Am nächsten Morgen konnte mich nur ein starker Kaffee wieder ins Leben zurück-
holen. Insofern mußte ich schnell meinem Professor widersprechen. Das dritte Ge-
tränk, ohne das man in Portugal nicht leben sollte, ist Kaffee. Und zwar nicht die dün-
ne Filterplörre, die man in Mitteleuropa unaufgefordert serviert bekommt, sondern
nach österreichischer Rezeptur zubereiteter Bohnenjus, wie ihn die subtilen Schweizer
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