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abzuwarten. Immer wieder beginnen die Weinbauern aus Furcht vor einem vorzeitigen
Wetterumschwung die Ernte zu früh, und es bedarf einer großen Gemütsruhe, auf die
Laune der Sonne zu vertrauen und den Trauben, wie Rilke formulierte, »noch zwei
südlichere Tage« zu gönnen: »Dränge sie zur Vollendung hin und jage die letzte Süße
in den schweren Wein.« Diese fast literarische Einstellung treibt auch Dirk Niepoort
um, der mit kindlicher Begeisterung von seinem 97er Vintage schwärmt, er sei der Bes-
te, den er je gemacht habe.
Bereits mein erster Besuch in Portugal konfrontierte mich mit einer Grundregel, was
die Getränke anbelangt. Ausgesprochen wurde sie von einem renommierten Literatur-
professor der Universität Coimbra, der mir bei einem Abendessen, auf die beiden auf
dem Tisch befindlichen Flaschen deutend, verriet: Nur zwei Getränke sind in Portugal
genießbar, Wasser und Wein. Wie zutreffend diese Aussage war, stellte ich fest, als ich
einige Tage später im Supermarkt importierte Granini-Fruchtsäfte für fünf Mark die
Flasche entdeckte und nach Ersatz suchte. Das völlig überzuckerte Fruchtsaftkonzen-
trat nebenan im Regal, das ich dann zur Kasse schleppte, wurde mir von der wohlmei-
nenden Kassiererin mitleidig wieder abgenommen. Das können Sie nicht trinken,
meinte sie. Das wollen Sie nicht trinken, fügte sie hinzu. Sie hatte wohl dank meiner
brachialen Aussprache erkannt, daß ich neu im Land war, und wollte mir den Genuß
dieses Plombenziehers ersparen.
Wie heilsam das vom Professor empfohlene Wasser ist, wenn man es unter Aus-
schluß der ortsüblichen Hochprozentigen immer nur abwechselnd mit Wein zu sich
nimmt, erschloß sich nach einigen Wochen stringenter Praxis. Die Luzidität lusitani-
schen Denkens bescherte mir bei der Pessoa-Lektüre Momente im bierseligen Deutsch-
land nie gekannter philosophischer Tiefe und Weitsicht.
Wie schnell diese sich aber auch wieder verflüchtigen kann, bewies ein literarischer
Abend in einer der linksorientierten Studentenverbindungen unterhalb der Mauern der
Universität Coimbra. Gewiß, es erschien mir von Beginn meines Sprachkurses an et-
was makaber, daß an deren Häusern schwarze Flaggen mit weißen Totenköpfen weh-
ten. Aber mit dem übertraditionalistischen Gebaren der anderen, den in schwarze Ca-
pas gehüllten Großgrundbesitzersöhnen, die manchmal nachts mit lodernden Fackeln
durch die Altstadt zogen, wollte ich erst recht nichts zu tun haben. Daher entschied ich
mich, an diesem Abend die schmale Treppe des baufälligen Verbindungshauses hinauf-
zusteigen, bei der jede zweite Stufe fehlte. Im oberen Stockwerk waren neben einem
Poster von Che Guevara mehrere Kerzen aufgestellt, davor saß ein bärtiger Literatur-
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