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Und ich war immer hungrig. Der Hunger schien mein Verbündeter geworden zu sein. Er
hielt sich zwar diskret im Hintergrund, war aber immer fühlbar, ohne aufdringlich zu wer-
den. Da alle aus einer Schüssel aßen, sagte ich mir nach einigen Einladungen: Du musst zu-
greifen, sonst ist die Schüssel leer. Nicht rumgucken, nicht erzählen. Besteck gab es nicht.
Alles ging mit der Hand. Ein Stück Fladenbrot abreißen, zwischen die Finger legen und
damit in den Topf oder die Tonschüssel, mit Fleischstücken und Hirse auffüllen und in
den Mund. Die Männer in der Runde schienen überhaupt nicht zu kauen. Sie schlangen
alles schnell hinunter. Der Kehlkopf arbeitete angestrengter als die Kinnbacken. Kaum dass
mir dieser Vorgang zu Bewusstsein kam, hatte sich die Schüssel geleert. Die Brotfladen
schmeckten gut, auch von der Hirse hätte ich zu gern etwas mehr gegessen, leider war sie
rasch verschwunden. Gierig schaute ich dorthin, von wo das Essen gebracht wurde. Als
Nachtisch wurden getrocknete Datteln gereicht. Lecker, süß und klebrig. Dazu schwarzer
Tee mit reichlich Zucker. Sheih war dann auch eines der ersten arabischen Worte, das sich
mir einprägte. So wie Salam . Meist radebrechte ich weiter mit Italienisch, das in der ehem-
aligen italienischen Kolonie Libyen auch ganz gut verstanden wurde.
In regelmäßigen Abständen kamen die Erinnerungen. An Besteck und an den Nachtisch
daheim bei Mutter: Pudding, Kuchen, Obstkompott. Dort hatten wir nie richtig Hunger, im
Grunde mehr als genug zu essen. Fleisch entsorgte ich manchmal heimlich vom Teller, weil
ich das nicht gerne aß. Doch wie gerne hätte ich nun in der Wüste einen Nachtisch gehabt.
Aber ich saß mit wildfremden Männern (Frauen verschwanden im Zelt) auf einem Teppich,
umgeben von bloßem Sand, die Beine eingefahren, mit einem Gläschen Tee in der Hand.
Zum Abend hin besorgte mir ein Beduine eine Bleibe für die Nacht. Eine Pritsche oder
einfach einen Schlafplatz auf festem Lehmboden in einem leeren Raum. Mein Rad nahm
ich immer mit. In den Radtaschen war meine Schlafwäsche. Nein, ich reiste nicht mit Sch-
lafanzug, schlief fast nackt, bis ich mal in der Nacht von einem nackten Mann Besuch
bekam. Da wurde mir erstmals bewusst, dass die Redewendung »einer vom anderen Ufer«
im wirklichen Leben tatsächlich zutrifft. Ich hatte zu Hause nie glauben wollen, dass Män-
ner andere Männer mögen. Schnell raffte ich meine Utensilien zusammen und legte meinen
Schlafsack draußen in einer Mulde auf blanken Wüstensand. Nach dieser Erfahrung wurde
ich bei Übernachtungsangeboten vorsichtiger. Spätestens wenn ein Mann seine Hand auf
mein Knie legte, wurde ich wachsam. Und abweisend, egal wie großzügig seine Essensein-
ladung war. Um eine Erkenntnis reicher, hatte ich anderntags auf dem Rad keine Lange-
weile.
Zum Ende der Wüstenstrecke gab es eine Zeit der Ausbeutung. Ich schindete meinen
Körper bis zum Verrecken. An einigen (wenigen) Tagen war ich von Sonnenaufgang bis
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