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Am nächsten Morgen zog milchiger Dunst aus den Tälern herauf und kroch über Hügel
und Bergketten. Der kalte Wind, der am Vortag fast unentwegt von Osten geweht hatte,
war eingeschlafen. Draußen vor der Höhle war alles still. Nirgendwo ein Laut oder eine
Bewegung. Nirgendwo konnten wir eine Militärpatrouille entdecken. Also packten wir un-
sere Sachen zusammen, ehe ich noch mal auf die Landkarte schaute und sich mein Blick in
einem Namenslabyrinth unzähliger Berge, Schluchten und Flüsse verlor. Dann zwängten
wir uns durch das dichte Strauchwerk, das den Höhleneingang vollständig verbarg. Jedes
Geräusch vermeidend, machten wir uns wieder auf den Weg.
Nur ein paar Kilometer gingen wir noch zusammen, ehe ich von meinen kurdischen Ge-
fährten Abschied nahm. Sie drückten mich an ihre Brust und wünschten mir alles Gute.
Kurz darauf verschwanden sie hinter einem hohen Felsgrat.
Ich war wieder allein, inmitten einer wilden Licht- und Schattenwelt.
Ich befand mich in Kurdistan, einem Land, das in keinem Atlas verzeichnet ist. Ein Rebel-
lenland, das im Schnittpunkt von fünf Staaten liegt: Türkei, Russland, Iran, Irak und Syri-
en. Seit undenklichen Zeiten kämpfen hier viele Kurden um ihre nationalen Rechte. Es ist
das ohnmächtige Aufbäumen eines unterdrückten 20-Millionen-Volkes, das einen eigenen
Staat beansprucht. Doch wo liegt dieses Kurdistan eigentlich?
Kurden erzählten mir, dass sich ihr Reich zwischen dem biblischen Berg Ararat im
Norden, dem iranischen Hochland im Osten, den Ufern des Tigris im Irak und den zen-
traltürkischen Ebenen des großen Stroms Euphrat erstreckt. Eine schwer zugängliche
Felswüste mit etwa 500 000 Quadratkilometern. Ein Steinland so wild und abweisend wie
das algerische Hoggar- oder Tassili-Gebirge im Süden der Sahara - mit wuchtigen Fels-
massiven, Geröll und Sand, mit Wadis, Schluchten und Tälern und einem extremen Klima,
das nur wenig Vegetation zulässt.
An dieses karge Land klammert sich das Volk der Kurden seit Generationen und trotzt
den übermächtigen Armeen diesseits und jenseits der Grenzen. Es ist das größte Volk der
Erde ohne eigenen Staat, das die Geschichte in einen tragischen Konflikt grenzüberschreit-
ender Unruhen trieb - wovon die Weltöffentlichkeit kaum Notiz nahm. Selbst als 1988 der
Diktator Saddam Hussein Giftgas-Granaten gegen das kurdische Volk im Irak einsetzte,
wobei Tausende von Menschen starben, hielt die Welt zwar schockiert den Atem an, tat
aber nichts. Bis heute hat die Weltöffentlichkeit wenig unternommen, um das Leid der Kur-
den zu beenden. Und wenn man bedenkt, dass allein im Irak fast zwei Drittel des gesamten
Erdöls aus kurdischem Erdboden gefördert werden, scheint es zumindest so, als würde das
Schweigen der Öffentlichkeit das Interesse der Großmächte widerspiegeln. Somit ist der
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