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nicht, dass Kälte und lange Tage so viel mehr Energie kosten. Also muss ich rationieren.
Esse jetzt nur noch zweimal täglich. Vormittags gibt es meist Porridge und eine Scheibe
Dosenbrot oder Knäcke, nachmittags Reis, Tütensuppe oder eben Spaghetti, jeweils mit
frischen Zwiebeln, Dosengemüse oder einer Tomatenpampe und manchmal mit von Astrid
eingewecktem Fleisch. Das reicht aber nicht. Wenn man rationiert lebt, denkt man unent-
wegt ans Essen. Zumal ich auf dem Proviant liege und nicht zugreifen darf. Das wünsche
ich niemandem.
Um Haltung zu bewahren, versuche ich meinem Bordleben einen festen Rhythmus zu
geben. An jedem Wochenende sind Körperwäsche, Kleiderwechsel, ein besonderes Essen
und eine neue Musikkassette fällig. Die höre ich dann rauf und runter. Das hat einen
Rauscheffekt. So lege ich etwa die Lieder von Patricia Kaas bei rauem Wetter ein. Abba bei
Schwachwind oder Flaute, Suzanne Vega und Loreena McKennitt, wenn ich mich richtig
gut fühle. Letzteres passiert, man glaubt es nicht, auch manchmal wenn ein Sturm weiße
Bahnen übers Meer zieht.
Die berühmten Kaps und andere Feiertage zelebriere ich regelrecht. Besonderes Essen,
Bier oder Wein, Kerzenschein. Um die Bewegungen für einige Stunden erträglicher zu
machen, reduziere ich kurzfristig die Segelflächen. Ich erfinde auch Anlässe, um meine
Stimmung zu heben oder das Einerlei - Kurshalten, Segelmanöver, Wetter - zu durch-
brechen. Jeder runde Längengrad, beispielsweise der 160. oder 170., werden zu einem sol-
chen Anlass. Ein Lied aus vollem Hals, ein paar rhythmische Tanzschritte oder aufmun-
ternde Selbstgespräche geben ihm die spezielle Note. »So, dann wollen wir es uns mal
gemütlich machen«, sage ich, wenn ich den »Tisch« auf dem Kajütboden klarmache zum
Essen. Oder feierlich auf Italienisch: »Buon appetito, Signore Weltumsegler. Come sta?«
Dies am liebsten in Mafioso-Tonlage, mit einer Stimme, die tief von unten kommt.
Eine zehrende Sehnsucht aber lässt sich auf keine Weise erfüllen: Haut berühren - frem-
de Haut.
23. Januar 2001 - 163. Tag
Brodelnde See, schäumende Gischt, festes Wasser auf dem Deck. KATHENA NUI fährt seit
neun Tagen durch eine chaotische See, die von immer neuen Sturmfronten aufgepeitscht
wird. Nicht umsonst heißen die Breitengrade, durch die ich segle, die »Brüllenden Vierzi-
ger« und »Schreienden Fünfziger«. Fünfmal beginnt das Barometer zu steigen und fällt
kurz darauf wieder ins Bodenlose. Die nächste Front ist im Kommen - mit zehn und elf
Beaufort. Und jede kommt von vorn. Eine gute Woche auf den Gipfeln des Meeres. Aber
Gipfelglück kommt da nicht auf.
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