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Ein schwerer Anruf
Ich nahm ein Taxi zum Miramar. Wenigstens hatte mein Vorstoß in das Labyrinth der
kolumbianischen Bürokratie den gefürchteten Augenblick aufgeschoben, der früher oder
später kommen musste. Nun war es soweit: Ich musste Marks Vater anrufen. Inzwischen
war es zu spät, um wieder nach Arrecifes zurückzukehren, also nahm ich ein Bett im
Miramar. Im Hof saß der übliche bunte Haufen Traveller in verschiedenen Stadien der
Degeneration - man unterhielt sich, las, spielte Schach, trank Bier und Fruchtsäfte. Ein
paar lagen träge in den Sesseln vor dem Fernseher in der Ecke und schauten einen zweitk-
lassigen blutrünstigen Film im Kabelfernsehen - Stirb mit einer Latte oder so etwas.
Ich schlich mindestens eine Stunde lang um das Telefon, bis ich meinen Mut zusammen-
genommen hatte. Schließlich rief ich an. Mein Herz klopfte, während ich wählte. Es war
das Schwerste, was ich jemals hatte tun müssen. Marks Stiefmutter, nicht sein Vater, ging
ran. Nun musste ich sagen, was ich den ganzen Tag geübt hatte.
„Denise, ich fürchte, etwas Schreckliches ist passiert, Mark ist ertrunken.“ So einfach und
doch so niederschmetternd. Ich hörte, wie ich selbst die Worte sagte, die alle Eltern mehr
als alle anderen Worte fürchten mussten: Dein Kind ist tot. Die schlimmste Neuigkeit von
allen.
Stille. „Ist das ein Witz?“, fragte sie schließlich. „Ich fürchte nein, Denise. Ich würde über
so etwas keine Witze machen.“
Das bloße Sprechen schien es ein Stück realer werden zu lassen. Sind Dinge wahr bevor
sie ausgesprochen werden? Vielleicht bleiben sie in demselben Stadium unentschiedener
Potenzialität wie Schrödingers berühmte philosophische Katze, von der wir nicht sagen
können, ob sie in ihrer Kiste sitzt oder nicht, bevor wir den Deckel öffnen, um hinein-
zusehen. Mein Anruf hob den Deckel von der oft surrealen Welt des Reisens und machte
Marks Tod auch in der Heimat zu einer Realität. Bis dahin hatte er sich auf Arrecifes und
Santa Marta beschränkt. Und solange er dort geblieben war, hatte er gewissermaßen etwas
Unentschiedenes an sich gehabt. In unserer Traumwelt von Hängematten, San Pedro und
surfenden Schweinen mochte Mark wohl tot sein, aber wenn wir erst wieder in den trüben
englischen Vororten waren, bei Nieselregen und Verkehrsstaus, würde alles wieder normal
sein. Für seine Familie traf es irgendwie zu: Für sie war Mark noch am Leben - bis zu
diesem Anruf. Dies war für sie der Augenblick des Todes. Und ich fühlte mich wie der
Henker.
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