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Er hatte nicht gelogen. Ich genoss die Fahrt an der Nidda entlang. Auf der
einen Seite Pappeln, Weiden, Birken, Sträucher, weiß blühender Bärenklau, hohe
nesselblättrige Glockenblumen mit violetten Blüten zwischen gemeinen Brennnes-
seln und wild wucherndem Farn, dahinter grünes Schilf und der silbrig blinkende
Fluss. Auf der anderen Seite neben mir endlose Wiesen mit hohem, wogendem
Gras; ab und zu ein goldenes, erntereifes Getreidefeld, begrenzt von einer sich
lang hinziehenden Erhebung in der Ferne. Ein klarer, tiefblauer Himmel, nur leicht
gemustert von wenigen fiedrigen Wölkchen. Es war eine Lust zu radeln. Kaum ein-
mal wurde ich von einer leichten Steigung gefordert. Es war fast schon ein Fliegen.
Das Rad fahren wurde zu einer milden Droge, versetzte mich in leichte Euphor-
ie, brachte mich dicht an die Erfüllung des uralten Traums des Menschen heran:
Frei und ungebunden aus eigener Kraft zu fliegen wie ein Vogel. Nur mit zwei mal
zwei Quadratzentimetern Gummi dem Boden und der Erde verhaftet schwebte ich,
übermütig in Schlangenlinien dahinsausend bis nach Bad Vilbel.
Von dort an verflog der Rausch allmählich und machte spätestens in der
Fußgängerzone von Hanau einem kurzen, heftigen Katzenjammer Platz. Wie war
ich nur hierher geraten? Diesmal hätte ich doch besser dem Radweg folgen sollen,
auch wenn er genau entgegen der Fahrtrichtung nach Hanau verlaufen war. Aber
ich musste schlau sein und den direkten Weg suchen. Und was hatte ich gefun-
den? - Die Fußgängerzone. Hier hatte ich bestimmt nichts verloren. Das heißt den
WegnachKahl,denhatteichschonverloren.Ihnwiederzufinden,würdemichviel
Zeit kosten. Andererseits spielte Zeit ja keine Rolle. Davon hatte ich genug. Das
sollte ich nicht vergessen. Ich wollte mich doch von angewöhnten oder anerzogen-
en Zwängen befreien. Deshalb war ich doch zum Nomaden auf Zeit geworden.
Mein inneres Gleichgewicht war wieder hergestellt. Ich ergab mich in mein Schick-
sal, fand mich mit der Situation ab und schaute mich in der Fußgängerzone von
Hanau um. Sie wirkte großstädtisch, war gut besucht, hatte Anschluss an einen
Busbahnhof und endete ziemlich abrupt hinter einem Parkplatz in einer Gegend,
deren stille, öde Straßen fast menschenleer waren, sodass sie vor unterdrückter
Langeweile lautlos gähnten. Die wenigen sichtbaren Bewohner ließen deutlich ihre
ausländische Herkunft erkennen und in den verstaubten Gebrauchtwarenläden
vermutete man unwillkürlich gestohlene Autoradios. Die Leute, die so aussahen,
wie sich ein durch viele Krimis im Fernsehen gebildeter Mensch Leute vorzustellen
hatte, die Autoradios stahlen, bevölkerten nun die Fußgängerzone. Das hinderte
mich bei meinem zweiten Rundgang daran, mir wenigstens ein Eis zu gönnen.
Ich mochte mein Gepäck nicht aus den Augen lassen. Mit brennenden Füßen und
durstiger Kehle kam ich wieder beim Parkplatz an. Er wirkte wie der Schlusspunkt
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