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Neunter Tag
Es war zu warm, um lange schön zu bleiben. Die Sonne stach hitzig auf die Erde
ein und diese hatte zur Abkühlung ein Gewitter bestellt. Über Marburg trafen die er-
sten teilnehmenden Wolken schon am frühen Vormittag ein.
Im Waschraum vor den Duschen traf ich einen der jungen Bayern bei der
Nassrasur am Kaltwasserhahn. Er zuckte schuldbewusst zusammen, als er mich
sah. Versöhnlich gab ich ihm einen Tipp: Ich zeigte ihm, wo ich in einer abgelegen-
en Ecke ein Waschbecken mit warmem Wasser entdeckt hatte.
Marburg gefiel mir. Ich wollte noch bleiben. Dieser Tag bot sich als Museumstag
an. Auf der Brücke über der Lahn kam mir ein Mann entgegen. Es war mein Helfer,
der Werkzeugverleiher. Wir wechselten ein paar Worte und er beschwor mich noch
einmal auf der Rückfahrt unbedingt bei ihm vorbeizuschauen, damit wir zusammen
ein Bier trinken konnten. Im Landgrafenschloss schaute ich mir die Sammlungen,
den Fürstensaal und das Landgrafenzimmer an, in dem 1529 das Marburger Reli-
gionsgespräch, ein Streit zwischen Luther und Zwingli ausgetragen wurde.
Vor dem Schloss ließ ich noch einmal die Aussicht auf mich wirken. Gerade
jetzt, kurz vor Ausbruch des Gewitters hatte der Ort mit dem weiten Rundblick eine
ganz besonders prickelnde Atmosphäre. Später, beim Wegehen erkannte ich am
Inhalt der Papierkörbe neben den Bänken, dass dieses Prickeln bei anderer Wetter-
lage auch schon künstlich herbeigeführt worden war: Man hatte nicht nur Rotwein
getrunken, sondern auch Sekt und sogar Champagner.
Zwischen Gärten und Laubbäumen fand ich den Weg hinunter zu einer Treppe,
an deren unterstem Absatz ich gleichzeitig mit einem Blitz und den ersten dicken
Tropfen des Gewitters ankam. Ich stand an einer breiten Straße auf deren ge-
genüberliegenden Seite ich einige Läden ausmachte. Dazwischen auch eine
Pizzeria, die mit einem Eröffnungsangebot lockte. Eine ideale Gelegenheit mich
vor der hereinbrechenden Flut zu retten. Ich schaffe es gerade noch. Der Raum
war klein. Fünf runde Tischchen und eine L-förmige Theke ließen einem nur wenig
Bewegungsfreiheit. Ich stellte mich an einen der Tische am Fenster. Der Regen
klatschte gegen die Scheibe. Von der Straße war kaum etwas zu sehen. Ich bekam
ein reich belegtes Stück Pizza und dazu Messer, Gabel und eine Stoffserviette. Der
Besitzer war ein blasser Italiener, der ungefähr so viel Deutsch sprach, wie ich Itali-
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