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Jerusalem des Nordens
seinen 64 Bänden auswendig gekannt ha-
ben. Sie schufen bedeutende Literaturwerke
in ihrem
Jiddisch,
der Grundlage des heuti-
gen Literatur-Jiddisch. Im Gegensatz zu den
chassidischen Strömungen Osteuropas, ei-
nes mystifizierenden, verinnerlichenden
Glaubens, herrschte in Vilnius mehr der
Geist der Aufklärung,
der Haskala. Neben
der Rabbinerschule und zehn geistlichen
Akademien mit jüdischen Studenten aus al-
ler Welt gab es
96 Synagogen,
neun Ge-
betshäuser, jüdische Verlagsanstalten und
Druckereien einen Schriftstellerclub, die
Strashun-Bibliothek (ab 1902) und 160 jüdi-
sche Vereine. Die Pogrome von 1881 und
das Erstarken des polnischen und russischen
Antisemitismus stürzten den Haskala
schließlich in eine Krise.
1897 wurde der
Jüdische Bund,
die
größte jüdisch-sozialistische Partei Osteuro-
pas, als Alternative zum Zionismus gegrün-
det. Von 1897 bis 1919 stieg die jüdische
Bevölkerungszahl von 64.000 auf 100.000
und stellte
rund ein Drittel der Einwohner.
Die Kinder wurden in jüdischen Schulen
unterrichtet, es gab
sechs Zeitungen
in
jiddischer Sprache sowie ein eigenes Thea-
ter. 1925 wurde das YIVO („Yidisher Visens-
haftliker Institut“) gegründet, das die
jiddi-
sche Sprache
erforschte und bis 1940 in
Vilnius seinen Hauptsitz unterhielt. Vor-
standsmitglieder waren u.a. Einstein und
Freud. In Vilnius wurde angeblich das „reins-
te“ Jiddisch gesprochen. Am Ende der pol-
nischen Annexion (1920-39) betrug der Be-
völkerungsanteil mit rund 80.000 Juden
noch 34 %. Im September 1939 übernahm
Russland Ostpolen, löste alle jüdischen Or-
ganisationen auf und deportierte ihre Leiter.
Unterdessen flohen viele polnische Juden
vor den Nazis nach Vilnius.
Im Juni 1941 besetzte die deutsche
Wehrmacht Vilnius, und am 6. September
wurden auf dem Gebiet des jüdischen Vier-
tels, getrennt durch die Vokie¤i® gatvë,
zwei Ghettos
errichtet. Das kleinere exis-
tierte nur 46 Tage. Die rund 11.000 Be-
Wer heute über die
Vokie¤i®-Straße
(„deut-
sche Straße“) geht, ahnt nicht, dass sich dort
einst ein
Zentrum jüdischen Lebens
be-
fand, das seinen Ursprung im ausgehenden
Mittelalter hatte. Damals zwang der christ-
liche Fanatismus in Mittel- und Westeuropa
viele Juden zur Flucht nach Osten. In Osteu-
ropa fanden sie religiöse Toleranz und bilde-
ten als Händler und Handwerker die neue
Mittelschicht. So verlagerte sich Anfang des
16. Jh. der Schwerpunkt des jüdischen Le-
bens nach Polen, Galizien, Litauen und
Russland.
In Litauen gab es
erste jüdische Nieder-
lassungen
schon Ende des 15. Jh. („shtett-
lech“ genannt); in Vilnius (jiddisch: Wilna)
wohnten Juden bereits seit 1323. Mindes-
tens seit 1633 existierte ein
jüdisches Vier-
tel.
Die jüdischen Bewohner werden seit je-
her
Litvaken
genannt. Sie durften aber erst
nur in den dem Magistrat gehörenden Ge-
bäuden wohnen, so Anfang des 17. Jh. nur
in den Straßen †yd®, Šv. Mykolo und Mësi-
ni®, nicht aber in der Vokie¤i® (für sie waren
sogar Wohnungen mit Blick auf letztere ver-
boten). Typisch für Judenviertel waren
schmale Straßen mit Querbögen; ein sol-
cher ist heute noch in der Marko Antokols-
kio gatvë zu sehen.
Trotz wiederholter
Pogrome
wurde 1573
mit dem Bau der großen Synagoge begon-
nen, und das geistige und kulturelle Leben
begann zu blühen. Es entstand eine
Talmud-
Akademie.
Dort lehrte auch der größte Ge-
lehrte, Elija ben Salomon Zalman (1720-
1797), besser bekannt unter dem Ehrentitel
„Gaon“(er konnte schon im Alter von sechs
Jahren den ganzen Talmud auswendig vor-
tragen).
Ab dem 18. Jh. entwickelte sich Vilnius zu
einer
Hochburg rabbinischer Gelehrter
und zu einem
Zentrum jüdischer Kultur.
Hier lebten viele Wissenschaftler des Judais-
mus. Weise der Stadt sollen den Talmud mit