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Ö Café Tortoni ** [D5]
Wuchtige Säulen, dunkles Holz
und geschwungene Spiegel, weinro-
te Holzfauteuils an Marmortischchen,
Tiffanylampen und ein bleiverglastes
Deckenfenster - das Tortoni ist ein
traditionelles Café, wie sie vor hun-
dert Jahren ausgesehen haben.
Die Spezialität des Hauses heißt
„Submarino“: heiße Milch, in der ein
Riegel Zartbitterschokolade schmilzt.
Das bringt der zum Interieur passend
gekleidete mozo, der Kellner. Doch
der lehnt erst einmal am Tresen und
lächelt in eine Kamera, dann balan-
ciert er sein Tablett und lächelt in die
nächste Kamera. Das legendäre Café
Tortoni, in den 1930er-Jahren Treff-
punkt der Intellektuellen, ist heute
Treffpunkt der Touristen und ihrer
Fotoapparate.
Seinen Anfang nahm alles 1858,
als Monsieur Touan entschied, ein
Café zu eröffnen. Das Vorbild fand er
in seiner Heimat Paris in einem ge-
diegenen Etablissement am Boule-
vard des Italiens, wo sich die Pariser
Kulturelite des 19. Jahrhunderts traf.
Monsieur Touan nannte sein Café wie
sein französisches Ideal: Tortoni.
Durch puren Zufall sollte sein
Wunsch, ein angesagtes Künstlerca-
fé zu etablieren, tatsächlich wahr wer-
den. Der Auslöser: 1880 zog er mit
seinem Café auf die andere Straßen-
seite. Ein paar Jahre später begann
man, an der Rückwand seines Cafés
einen Boulevard zu bauen, der die ers-
te Prachtstraße der Stadt werden soll-
te. 1894 wurde die Avenida de Mayo
eingeweiht. Die opulente Straße zog
gut gestelltes Publikum an. Im Torto-
ni dachte man kurz nach, verlegte den
Haupteingang an die Avenida de Mayo
und baute eine neue Fassade.
Das Tortoni wurde zum Inbegriff
des traditionellen Intellektuellenca-
N Im Tortoni bedienten die Kellner
einst die Schöngeister der Stadt
Subte A: Politik unterirdisch
Am 1. Dezember 1913 wurde die
„Subterraneo A“ eingeweiht. Sie war
die erste Untergrundbahn Südameri-
kas. Einhundert Jahre lang ratterten
die alten Waggons mit Holzbänken
und Tütenlampen unter der Aveni-
da de Mayo entlang. Am 11. Januar
2013 zog Mauricio Macri, Bürger-
meister von Buenos Aires, die his-
torischen Wagen aus dem Verkehr
und ersetzte sie durch Sardinenbüch-
sen mit dem chinesischen Stempel
Changchun Railway, deren blüten-
weiße Plastikwände schon jetzt leicht
mitgenommen wirken und deren viel-
gepriesene Klimaanlage immer häufi-
ger Aussetzer hat. Die geliebten alten
Waggons, in denen schon die Urgroß-
eltern unter der Avenida de Mayo ent-
langrumpelten, verrosten indes lang-
sam auf einem Abstellgleis und für
die alternativen Pläne ihrer Restau-
ration ist es nun zu spät. Ein schöner
Stoff für lange politische Debatten an
den Kaffeehaustischen - denn selbst
unterirdisch wird hohe Politik ge-
macht. Oder war es umgekehrt?
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