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Therapeuten mit dem Schwer-
punkt Psychoanalyse gibt es zuhauf
in Buenos Aires. Auf je 120 Einwoh-
ner kommt hier ein Psychologe. Das
ist die größte Psychologendichte der
Welt, um mit einem weiteren Super-
lativ aufzuwarten. Und es werden
mehr! Weshalb das so ist, darüber
gibt es viele Theorien: die Melancho-
lie der Einwohner, ihr Narzissmus, die
Heimatlosigkeit ihrer Vorfahren, die
Gewalt der Militärdiktatur oder die
Unsicherheit im Alltagsleben.
Noch lieber als über Psychologie
fachsimpeln die Porteños über Poli-
tik. Dazu hat jeder etwas zu sagen -
und jeder will gehört werden: Unzähli-
ge Demonstrationen legen die Stadt
in schönster Regelmäßigkeit lahm.
Mit einem herzhaften, geduzten „Fu-
erza Cristina“ („Vorwärts Christina“)
sprechen sie ihrer Präsidentin Mut
zu. Oder sie werfen wie die piquete-
ros, organisierte Arbeitslose, Auf-
merksamkeit heischend Böller vor
den Kongresspalast. Die Demos sei-
en bezahlt, wirft dann die eine Seite
der anderen vor. Wer da wen bezahlt,
wer weiß das schon genau. Zumal
sich in atemberaubender Geschwin-
digkeit Parteien formieren und wie-
der auflösen, Bündnisse geschmiedet
und wieder verworfen werden.
Traditionelle Parteien sind die pe-
ronistische PJ (Partido Justicialista),
1945 von Juan Perón gegründet,
und die UCR (Unión Civica Radical),
die schon 1891 entstand. Seit 2003
ne durch die Grünanlagen der Stadt
spazieren, oder als lebende Werbe-
träger, die mit einem Plakat bei je-
der Rotphase der Ampel vor die war-
tenden Autos der Avenida 9 de Julio
springen.
Trotz all der Arbeit ist der Durch-
schnitts-Porteño sehr belesen und
gebildet. Erfährt er, dass der Besu-
cher aus Deutschland kommt, freut
er sich auf eine angeregte Diskussi-
on über Kant und Hegel. Allerdings -
so beklagen die Älteren - lasse die
Allgemeinbildung der jungen Leu-
te heute zu wünschen übrig. Dabei
kann fast jeder Bewohner der Stadt
aus dem Stegreif einen mittellangen
Fachvortrag über Sigmund Freud hal-
ten. Schließlich wurden die meisten
schon als Kind zum Psi geschickt,
weil sie an den Fingernägeln geknab-
bert haben.
N Die ständigen Demonstrationen
gehören zum Alltagsleben der
Porteños dazu
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