Travel Reference
In-Depth Information
sind (wir sind inzwischen so heiser, dass wir kein verständliches Wort mehr herausbrin-
gen), geht es uns dann wieder besser. Wir waren ohnehin zu früh dran. Mit einer Abwei-
chung von weniger als fünf Minuten zum vereinbarten Zeitpunkt erreichen wir schließlich
die Radzentrale in Madison.
Das Radgeschäft und „Connie“, unsere Kontaktfrau, benehmen sich verblüffend
professionell. Nachdem man ausgiebig meine Probleme (krummer Rücken, schmer-
zende Knie) studiert hat und die Montage eines neuen Lenkers nichts hilft, stellt man
mir für den nächsten Tag ein ganz neues, größeres Rad in Aussicht.
Wir übernachten bei Mary, der Tochter des Firmenbesitzers, deren Haus an einem nahen
See liegt, und werden am Abend Zeugen eines martialisch-schönen Sonnenuntergangs: Mit
Todesverachtung stürzt sich der lodernde Feuerball ins dunkelrote Wasser und der Himmel
füllt sich mit apokalyptischen Wolken, während die immer länger werdenden Schatten der
Uferbäume still und heimlich das restliche Tageslicht in sich hineinschlürfen. Was für ein
Anblick!
In mein Tagebuch notiere ich zum heutigen Tag zwei neue „Patschen“ (macht fünf in nur
drei Wochen; Stefan hatte noch keinen). Und: Madison ist die erste Stadt seit Boston, in
der es wirklich gutes Bier gibt.
Diese Stadt ist eine Insel in einem Meer von Budweiser! Und Tobis platte Reifen er-
innern mich inzwischen immer mehr an die Komödie „Ein Tolpatsch kommt selten
allein“: Mir geht es dabei wie Pierre Richard, der im Laufe des Films sein sprichwört-
liches Dauerpech immer besser an seinem höhnischen Reisegefährten Gerard Depar-
dieu abwischen kann. (Hehe …)
Kurvenlage
Was sich schon in den vergangenen Wochen abgezeichnet hat, ist seit heute klar: Unsere
Stimmungskurven verlaufen auf dieser Reise vollkommen gegenläufig. Geht es dem einen
schlecht, dann fühlt sich der andere meistens erstaunlich gut. Eine Reaktion löst immer eine
Gegenreaktion aus.
Heute hat diese Differenz wohl zur Explosion geführt. Doch in den Wochen, die noch vor
uns liegen, werden wir genau aus dieser Fähigkeit das Potential schöpfen, unser Abenteu-
er wohlbehalten zu Ende führen zu können. Diese „Kurventechnik“ ist unsere Reiseversi-
cherung: Keine Verzweiflung ohne Zuversicht, kein Schwächeanfall ohne Kraftausbruch,
keine kleinlaute Resignation ohne strotzende Willenskraft. Die vollkommene Katastrophe
gibt es nicht.
Möglich, dass ein Zustand wie dieser nur aus der Rivalität zweier Geschwister entstehen
kann: Aus der unerschütterlichen (und letztlich nicht beweisbaren) Überzeugung, all das
prinzipiell auch zu können, was der andere kann.
Oft hat man uns gefragt, wer von uns eigentlich der Reiseleiter ist. Eine gute Frage. Tat-
sächlich vollzieht sich Tag für Tag eine Unzahl situationsbedingter Führungswechsel. Es
Search WWH ::




Custom Search