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so dass die Hafenleute das Auto nicht auf die Fähre schaffen können. Ein halbes Dutzend
verzweifelter Aufrufe später steht der Wagen dann noch immer da. Vielleicht hat ihn nur
irgendein Betrunkener versehentlich am Hafen abgestellt? - Egal, als das Schiff mit fünf-
zehnminütiger Verspätung ablegt, ist das Objekt des Ärgernisses jedenfalls weg. (Vielleicht
haben es die Jungs auch einfach nur gesprengt …)
Dichter Nebel und verhangener Himmel. Grauer See auf grauem Grund: Lake Michigan
an einem verunglückten Junimorgen. Farblos ist auch die Stimmung: Übermüdet und ein
wenig übellaunig lassen wir die mehrstündige Überfahrt verstreichen. Anders als auf dem
„Traumschiff“ ( das einzige große Schiff, das Stefan kennt! ) sind fast nur alte Opas und
Omas an Bord. - Wir verkriechen uns also im Bordkino, sehen „Schweinchen Babe“ und
schreiben einen Stapel Postkarten nach Hause.
Als wir unsere Räder von der Fähre auf die Docks von Manitowoc schieben, sind wir
richtig glücklich, wieder in den Sattel zu dürfen: Vom Fahrrad aus ist Amerika irgendwie
überschaubarer als eingepfercht zwischen blauhaarigen, lederigen Pensionistenherden und
plärrenden Müttern mit Kinderwagen.
Das Schiff spuckt uns in einem neuen Land aus: Wisconsin. So hat uns keine Landschaft
mehr angesprungen, seit wir vor drei Wochen in Boston mit feuchten Handflächen aus dem
Greyhound gestiegen sind. ( Stefans Handflächen waren natürlich vom Bourbon feucht, hi-
hi … )
Aber ein unbekanntes Bild wie dieses nötigt uns inzwischen keinen Respekt mehr ab. So
richtet sich die Aufmerksamkeit auf das einzige Ziel, das wir heute noch zu erreichen ha-
ben: unsere täglichen 60 Meilen. (Die tägliche Dosis. - Ahhh … Richtige Kilometer-Jun-
kies sind wir geworden.) - Was anfangs bedrohlich und beängstigend wirkte, ist nun beru-
higend: Eine Klammer, die die Stunden, Tage und Wochen zusammenhält.
Von Manitowoc aus rufen wir unseren Sponsor, die Radfirma „Trek“, an. Mit „Connie“
(so der Deckname unserer Kontaktfrau) vereinbaren wir, dass wir am nächsten Tag um 14
Uhr in der Zentrale in Madison sein werden. Das sind noch ungefähr 130 Meilen. - Als wir
aufbrechen, ist es schon halb eins. Es wird einer der allerschlauchendsten Tage.
Nie in meinem Leben hätte ich gedacht, dass man beim Radfahren in Sekundenschlaf fal-
len kann. Meine Beine bewegen sich vollautomatisch und weigern sich, vom Gehirn noch
zusätzliche Befehle zu empfangen. Mit halb geschlossenen Augen lasse ich mich um ein
Haar von einem Fernlaster überrollen, bekomme plötzlich keine Luft mehr, brülle wieder-
holt Stefan an (das weckt wenigstens ein bisschen auf), weil der unbedingt noch weiterfah-
ren will, um unser morgiges Pensum zu verkürzen.
Trotz starken Gegenwindes schaffen wir an diesem Tag noch 78 Meilen. Todmüde fallen
wir in Waupun in einer Kirche ein. Der Pfarrer, ein mitleidiger Dreifaltigkeitslutheraner,
spricht ausgezeichnet Deutsch; er hat polnische Eltern und viel Verständnis für unsere La-
ge.
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