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findet, ist ein stiller Schatz, der einen ein Leben lang in jener Truhe mit den wertvollsten
Erinnerungen des Lebens begleitet.
Jetzt, wo alles noch so frisch ist, ist es eigentümlich schwer zu begreifen, dass dieses tro-
ckene Gemisch von 68 Tagen, ein paar hundert Menschen, Schmerzen, Schweiß und 6683
Kilometern so etwas Legendäres ergibt wie die Durchquerung eines Kontinents mit dem
Fahrrad: Die Leistung wird wohl erst mit der Zeit für den, der sie vollbracht hat, zu einem
Denkmal; einmalig und unwiederholbar.
Ein wenig fürchte ich mich vor dieser Erkenntnis: Gerade scheint die Welt noch so schön
klein, so fassbar, so „radelbar“, und das große Amerika steckt wertvoll und unsichtbar in
einer Hosentasche meiner verwaschenen Jeans wie eine Goldmedaille für Lebenskunst. -
Wann immer ich in meinem späteren Leben in diese Stadt zurückkommen sollte, wird mich
diese Brücke an das makellose Glücksgefühl der letzten Stunden erinnern.
All die Symbole, die uns zwei Monate lang vorwärts getrieben haben, liegen jetzt - im
Kopf wie auch geographisch - hinter uns: die Brücke, das Goldene Tor, das Ziel. Was vor
uns liegt, ist eine Stadt, die nicht mehr mit unserer Reise zu tun hat, als dass sie den Na-
men des Ziels trägt: San Francisco. - An Cablecars vorbei radeln wir durch die legendären
Straßenschluchten, quer durch Chinatown und über den Fisherman's Wharf an der Insel
Alcatraz entlang. Frisco ist inzwischen als Endpunkt unserer Reise entzaubert. Was bleibt,
ist ein Hauch von Erhabenheit und Exotik und die entfernte Ahnung, diese wunderschöne
(etwas kühle) Stadt per Rad erreicht zu haben. (Wie viele europäische Touristen können
das schon von sich behaupten?)
Vor der Reise war gerade das eine meiner größten Ängste: Mit dem Fahrrad nach
San Francisco zu kommen - und auf die Reise zurückblicken zu müssen. Dieser
scheinbar irrationale Gedanke taucht nun plötzlich wieder in mir auf: Die letzten Wo-
chen und Monate waren einfach eine wunderschöne Zeit - die Tatsache, dass sie nun
vorbei ist, ist nur schwer zu verwinden. Was bleibt, ist ein Gefühl der Leere.
Den restlichen Tag bin ich ziemlich schweigsam. Wenn ich über etwas spreche, dann
nicht „darüber“. Vielleicht brauche ich etwas, um die Spannung zu lösen. Vielleicht
hätte man ans Ende dieser Straße eine Frau stellen sollen und keine Brücke. Im Geis-
te bin ich noch immer unterwegs. Verstanden habe ich überhaupt nichts - nicht ein-
mal jetzt, da die Brücke schon längst hinter uns liegt.
Am Nachmittag sehen wir uns Fisherman's Wharf an. Wir kaufen Postkarten, vertreiben
uns die Zeit mit den neuesten Videospielen, essen zunächst mexikanisch und schließlich
amerikanisch (Burger und Fries). Dann wird es so kalt, dass wir wieder nach Hause gehen,
um bei einer heißen Tasse Tee mit Jesse zu plaudern.
Jesse (seine Familie ist 1938 aus Hamburg eingewandert) war bei einer Werbefirma be-
schäftigt, bevor er sich Novellen und Drehbüchern zuwandte. Heute sind es aber vor allem
wir, die eine Geschichte zu erzählen haben.
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