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Vor lauter Frustration erleide ich einen weiteren Reifenschaden. Immerhin schon
mein dritter auf dieser Reise. Was das anlangt, habe ich viel aufgeholt in den letzten
Tagen. - Vielleicht kann ich Tobi am Ende doch noch schlagen? Immerhin sind es ja
noch beinahe 50 Meilen bis San Francisco.
Unser vorletztes Reifenpflaster findet unter lautem Gefluche seinen endgültigen Bestim-
mungsort auf Stefans Vorderrad. Mein „Kriechpatschen“ hat sich dafür sonderbarerweise
etwas beruhigt, ich muss ihn nur noch zweimal am Tag aufpumpen. Sogar die Luft scheint
unter diesen Umständen keine Lust mehr zu haben, aus den Reifen in das bitterkalte, nord-
kalifornische August-Tief zu entweichen.
Bei Stinson Beach (hier hat man wenigstens echten Meerblick) verlassen wir das zermür-
bende Auf und Ab von Highway 1 und fahren stattdessen auf einer Panoramastraße Mt.
Tamalpais hinauf. (Es ist der letzte Berg vor San Francisco. Der aller letzte - und diesmal
wirklich.) Es geht auf sieben Uhr zu, und wir klettern noch einmal unermüdlich auf über
2000 Fuß durch die Muir-Redwoods den Wolken entgegen. Es war schon unten kühl, oben
wird es dafür empfindlich kalt.
Anfangs können wir noch die Bucht von Stinson Beach sehen, später nur noch Dunst. Bei
einer kurzen Abfahrt verabschieden sich unsere Finger vor Kälte. (Stand hier nicht irgend-
wo „Kalifornien“?) Dann schwappt der Nebel über die Straße. Wir können nichts mehr se-
hen. Noch schlimmer: Man kann auch uns nicht mehr sehen. Es wird gefährlich. Irgendwo
da unten in der grauen Suppe mag San Francisco sein. Aber bei dieser Sicht könnten wir
auch durch San Francisco durchradeln und würden es nicht bemerken. Ein unbeleuchteter
Porsche mit quietschenden Reifen rast knapp an uns vorbei. Es ist Zeit aufzuhören.
Als uns vor einer erneuten Abfahrt jemand freundlich zuwinkt, ist für uns alles klar:
„Dürfen wir über Nacht hier oben bleiben?“, fragen wir. Wir dürfen.
Der freundliche Winker ist Matt aus Colorado; er ist gerade bei einem Freund namens
Dirk zu Besuch. - Dirks Haus wäre jedermanns Traum: 1910 gebaut, viel Holz, Blick zwi-
schen den Bergen hindurch auf die San Francisco Bay (jedenfalls bei Schönwetter), 20 Mi-
nuten ins Zentrum, Hängematte mit Golden-Gate-Blick, ruhige Lage - toll! Dirk arbeitet
bei der Rettung in Frisco, hat heute Nachtdienst und weiß daher noch gar nichts von sei-
nem Glück. Matt sagt, er wird ihm später Bescheid geben, aber Dirk habe bestimmt nichts
dagegen, unser Gastgeber zu sein.
Dank einer langen, heißen Dusche rasseln wir beide noch einmal haarscharf an einer bö-
sen Erkältung vorbei.
Obwohl unser großes Ziel, die Golden Gate Bridge, in den letzten Tagen durch die müh-
selige Anreise einen ziemlich nüchternen Anstrich bekommen hat, wird das morgen, an un-
serem 68. Tag, einer der tollsten Augenblicke meines Lebens sein. Die Stunden bis dorthin
sind noch zermürbender als Weihnachten in meiner Kindheit: das Warten, der ungeduldige
Blick auf die Uhr und den Kalender. Das war immer das Schlimmste.
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