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immerhin ein gemütliches Rollenlassen. Unter den Blinden ist der Einäugige eben Kö-
nig.
Nach einer Meile kommt mir plötzlich ein Tandem entgegen: ein junges Pärchen,
gut ausgerüstet, auf dem Weg - irgendwohin. Das Ziel ist in diesem Moment egal, ge-
nauso wie ihre Existenz, die sie zurückgelassen haben. Die beiden haben alles mit, was
man zum Leben braucht: Ein Hauch von Romantik ist auch dabei …
Der Anblick ist zu schön: Auf einmal befinde ich mich im Frieden mit mir und
der Welt. Ich stelle mir Michelangelos Deckenfresko in der Sixtinischen Kapelle vor:
Adam, der die Hand nach seinem Schöpfer ausstreckt, um ein wenig von dessen gött-
lichem Funken zu erhaschen. Unwillkürlich habe ich auch meine Hand ausgestreckt.
Nicht so theatralisch wie bei Michelangelo. Eher schon wie im römischen Zirkus:
Daumen nach oben. Ihr sollt leben. Aber das tut ihr sowieso schon. Toll, was ihr da
macht. Den Berg habt ihr bald geschafft.
Der Funke springt über. Die beiden lächeln. Richtig glücklich sehen sie aus. Sie ver-
stehen, worum's geht. Bloß: Sie stehen erst am Anfang. Für mich sind's die letzten
Tage. Bedauern? Mitgefühl? Schwer zu sagen. Vielleicht auch Neid.
Wir arbeiten uns weiter durch die Gesteinsschichten nach unten. Es ist eine Art
Countdown in die Ebene, denn unser Ziel, der Pazifik, liegt bei null. Die ersten Hö-
henmeter, die es nun wieder abwärts geht, haben wir erst vor ein paar Minuten müh-
selig erklettert. Verschwenderisch gehen wir jetzt damit um. Nie wieder wird uns un-
sere Reise auf solche Höhen führen wie jetzt. Niemals wieder. Die Endgültigkeit, die
darin liegt, ist überwältigend.
Die Berge - Symbole für unsere Hartnäckigkeit, Monumente unserer Willenskraft.
Für mich hatten sie außerdem eine ganz besondere Bedeutung während all der Wo-
chen: ein Gleichnis für den Kampf gegen die Schwierigkeiten des Alltags, für den
Entschluss, niemals aufzugeben. - Berge bekämpfen: Das hat ein bisschen was von
Don Quixote, der gegen Windmühlen kämpft. Aber eben nur ein bisschen. Denn un-
ser Kampf ist nun vorbei.
Auf dem Weg hinunter von Eskimo Hill erleide ich einen kleinen Tod. Es sind nicht
nur die unsäglichen Herausforderungen dieser Reise, die plötzlich auf dem Sterbebett
liegen. Es ist unsere eigene Existenz, die Inhalte eines gewaltigen Sommers, von denen
wir nun langsam Abschied nehmen müssen. Ich spüre das Ende kommen.
Immer weiter geht es abwärts, scheinbar unaufhaltsam - obwohl man doch so leicht die
Bremsen ziehen könnte. Schließlich werden wir auch noch das verbrauchen, was wir zu
Beginn dieser Reise - vor Monaten, an der Ostküste - angehäuft haben: Sacramento Valley
liegt nur noch 100 Meter über dem Meer.
Es ist, als ob mein ganzes Leben an mir vorbeizieht. Die Gefühle übermannen mich.
Ich muss gegen Tränen ankämpfen. - Männer weinen nicht? Blödsinn. Aber sie soll-
ten es nicht tun. Nicht auf einer winkeligen Straße bei 50 km/h.
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