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Wenig später schlafe ich ein (es ist fast drei Uhr früh). Kurze Momente leichten
Wegdösens bringen Schlaglichter der Umgebung: Die Suburbs von New York, der
Highway mit seinen schlachtschiffartigen Karossen, die ersten zünftigen Trucks, die
Vier-Uhr-Rast, kalte Drive-In-Hamburger im orangen Natronlicht der Parkplatzlam-
pen und schales Dr. Pepper. Dann eine blasse aufgehende Sonne und schließlich eine
sich im Zeitraffertempo verdichtende Wolkendecke.
Eine halbe Stunde vor Boston beginnt es zu regnen. Es ist 6.30 Uhr. In drei Stunden wol-
len wir im Radgeschäft sein, unsere Räder holen und losfahren.
Aber es wird sowieso alles anders kommen.
In der Terminal-Toilette von Boston widme ich eine halbe Stunde dem Versuch, mei-
ne Sachen vom Bourbon-Duft zu befreien. Dann gebe ich auf. Durch strömenden Re-
gen kämpfen wir uns in die neue Ankunftshalle. Eigenartig, dass in meinen Tagträu-
men vom Radfahren in Amerika nie Regen vorkam.
In der Ankunftshalle strömt Bostons morgendliche Rushhour-Armee von den Pendlerzü-
gen auf uns ein. Wir kämpfen uns durch Strom und Gegenstrom bis zu einem Steh-Café
und versuchen bei Croissants und Kuchen, in dieser desillusionierenden Umgebung unser
nicht einmal zwölf Stunden altes Heldenepos über Wasser zu halten.
Wie zwei Sandler (Stefan stinkt, ich trage den Pappkarton) lassen wir uns zur U-Bahn-
Station treiben und steigen in den Zug Richtung Radgeschäft.
Kommt Zeit, kommt Rad
Nie wieder werden wir so sehr daran zweifeln, dieses Abenteuer zu Ende bringen zu kön-
nen. Nicht so sehr wie an jenen grauen Tagen in Boston.
Als wir zu Geschäftsbeginn den Laden von „International Bicycles“ betreten, schaut man
uns zunächst an wie zwei nach Whiskey stinkende Mondkälber. „Räder? Für wen?“ Aber
dann findet man sie doch, die „Bikes for the Austrians“. Sie sind sogar schon seit gestern
früh da, teilt man uns freudig erregt mit. Wir sind ebenfalls freudig erregt.
Zuversichtlich, mit neuem Selbstvertrauen reißen wir die Kartons auf. Jetzt wird ja doch
noch alles gut. Es hat sogar aufgehört zu regnen. Noch erkennen wir die fatale Tragwei-
te dieses Augenblicks nicht, obwohl ein Hauch davon schon in der Luft liegt: Die Räder
müssen erst zusammengebaut werden. Im Geschäft hat keiner Zeit. Zumindest jetzt nicht.
Vielleicht später mal. Wir fangen an, selber daran herumzuschrauben. Als wir ganz unten
in der Kiste Plastikpedale entdecken, hören wir wieder auf. Draußen regnet es inzwischen
wieder.
Wir rufen bei „Trek“ in Wisconsin an und machen mit falscher Bestimmtheit und echter
Verzweiflung klar, dass dies hier nicht die richtigen Räder sein können. Damit werden wir
bei starkem Rückenwind vielleicht bis zu den Niagarafällen kommen. Aber bis San Fran-
cisco schaffen es die Dinger höchstens in der Holzkiste zusammen mit uns. Die Radfirma
entschuldigt sich und tut immerhin so, als ob sie wirklich aus Versehen die falschen Räder
geliefert hätte. Das beruhigt ein wenig. Die Räder, die man uns versprochen hat, wären lei-
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