Travel Reference
In-Depth Information
Der Mistral
Mistral ist okzitanisch und bedeutet Maître,
Meister und Beherrscher. Und wer ihn je-
mals erlebt hat, sei es nur für ein paar Tage,
dem wird die Bezeichnung einleuchten.
Der Mistral ist herrschsüchtig, allgewaltig,
grausam. Er gönnt keine Atempause, frischt
nicht auf in Böen und lässt wieder nach,
nein, er ist einfach immer da, Stunde um
Stunde, Tag und Nacht, unermüdlich, uner-
bittlich.
Ganz oben im Rhônetal nimmt er Anlauf,
rast zwischen Zentralmassiv und Alpen
südwärts, um schließlich im Delta als aus-
gewachsener Orkan anzukommen, nicht
mehr bloß Wind, sondern Naturereignis
und rätselhaftes Phänomen.
Der Maître - er ist Herrscher über
Mensch und Tier: Der Mistral kann de-
pressiv, gar verrückt machen. Er verursacht
Phantomschmerzen, Albträume und allerlei
wunderliche Verhaltensweisen. Für manche
ist er gar schuld an Selbsttötungen.
Er ist Herrscher über die Pflanzenwelt:
Die gesamte Vegetation muss seinen
Attacken trotzen, wer nicht damit fertig
wird, verkümmert, geht ein, stirbt aus.
Er ist Herrscher über die Landschaft: All
die Hecken und Mäuerchen dienen einem
Ziel: den Mistral zu bremsen, Obst, Gemü-
se, Ölbäume und Weinstöcke zu schützen.
Und er ist Herrscher über die Architek-
tur: Jedes Haus, wenn es gut gebaut ist,
duckt sich vor dem Mistral, bietet ihm eine
fensterlose Nordfassade dar. Ähnlich ge-
schützt sind die Gassen und Plätze der
Dörfer.
Natürlich hat er auch seinen Platz in der
Kunst. Der leergefegte, tiefblaue Himmel,
die unglaubliche Härte und Klarheit des
Lichts auf Gemälden - da war vor dem
Künstler schon der Mistral am Werke ge-
wesen.
Den letzten meteorologischen Erklärun-
gen entzieht sich der Mistral noch immer.
Ein Ansatz lautet: Es gibt eigentlich zwei
Mistrals. Der eine - dynamisch bedingte -
entsteht aus einer gesamteuropäischen
Wetterlage, wenn maritime Kaltluft von
Nordwesten nach Südosten abfließt und
diese Luftbewegung im engen Rhônetal zu
einem heftigen Wind gebündelt wird. Der
andere - thermisch bedingte - entsteht vor
Ort, wenn kleine, kalte Luftmassen aus den
Cevennen oder den Voralpen die Täler der
Rhône-Zuflüsse hinabwandern und in das
Rhônetal selbst gelangen. Was aber ein
echter Provenzale ist, der pfeift auf Erklä-
rungen. Phänomene dieser Bedeutung, so
sagt ihm seine Lebenserfahrung, lassen sich
gar nicht erklären.
In mancher Hinsicht verhält es sich mit
dem Mistral wie mit einem Choleriker: Man
muss ihn zu nehmen wissen. Seine Anfälle
folgen gewissen Regeln (der Mistral weht
angeblich immer drei, sechs oder neun Ta-
ge), man kann sie nicht verhindern, nur in
Deckung gehen und, wenn sie vorbei sind,
darüber lachen. Außerdem hat man immer
ein Gesprächsthema: Wie war das letzte
Mal, und wann geht es aufs Neue los?
schendste: Er entsteigt den Aroma-
Drüsen von kleinen Sträuchern und
Kräutern, vor allem Thymian, Rosma-
rin und Lavendel, die sich ein Plätz-
chen auf dem Boden zwischen Bäu-
men und Sträuchern gesucht haben,
ihn aber nur spärlich bedecken. Aus
dieser kümmerlichen Pflanzendecke
blitzt nicht selten weiß-graues Kalkge-
stein hervor und der Boden ist an
manchen Stellen so dünn, dass er nur
noch die Gesteinsritzen durchädert.
Search WWH ::




Custom Search