Travel Reference
In-Depth Information
fand er auch zu seinem ersten großen
Thema: der alten Heimat.
Sein Blick auf die Provence ist zum
einen der auf ein verlorenes Paradies,
gleichzeitig aber der des staunenden,
verwunderten, manchmal befremde-
ten Besuchers, ja des Touristen. Denn
was anders war Daudet als ein Tourist,
Hauptstädter wie all die anderen, die
nur ihre Ferien im Midi verbrachten?
In Fontvieille, wo Verwandte ein
Schloss besaßen, lockten ihn bei sei-
nen sommerlichen Streifzügen die
Windmühlen der Gegend an, vor al-
lem die Mühle Tissot. Gewohnt hat er
freilich nie darin. Wohl träumte er da-
von, eine zu kaufen, doch die „Briefe
aus meiner Mühle“ entstanden am
Schreibtisch in Paris. Der Journalist
und Geschichtenerzähler Daudet
spielte darin seine Beobachtungsgabe,
sein feines Gespür für Stimmungen
aus, und natürlich schärfte sich diese
Wahrnehmung noch aus der Distanz.
Die Briefe leben von dieser genauen
und dabei doch überzeichneten, bald
verklärenden, bald spöttelnden Sicht
auf die Idylle von Fontvieille.
Obwohl Bewunderer Mistrals und in
Kontakt stehend mit den Félibres,
schrieb Daudet also ganz für ein Pa-
riser Publikum. In manchem erinnert
das an Pagnol: Beide trieb der un-
bedingte Wille, erfolgreich zu sein mit
ihrer Kunst, beiden gelang es nicht zu-
letzt, indem sie ihre Heimat stilisierten,
beiden trug genau dies nicht wenig
Kritik ein. Gerade mit dem „Tartarin
von Tarascon“ zog Daudet den Ärger
vieler Provenzalen auf sich. In dieser
Figur hatte er in satirischer Übersteige-
rung vereint, was er als Eigenart des
provenzalischen Menschenschlags an-
sah: Tartarin, aufschneiderischer Fan-
tast und doch biederer Kleinbürger.
Das verübelte man ihm so, wie man
Pagnol den „Marius“ verübeln würde.
Denn die Tartarins und Marius' waren
es, die im übrigen Frankreich das Kli-
schee, oder besser, das Zerrbild des
Provenzalen mitzeichneten - und un-
erhörten Erfolg ernteten. Ebenso wie
Pagnols Kindheitserinnerungen, zäh-
len Daudets „Briefe“ bis heute zu den
Klassikern großer und doch leichter Li-
teratur und damit auch zur Pflichtlek-
türe jedes Schulkindes.
Doch man täte Daudet Unrecht, re-
duzierte man ihn auf diesen Aspekt.
Die provenzalische Phase seines Wer-
kes war ohnehin bald abgeschlossen.
Die Originalität des Alphonse Daudet
liegt darin, ganz Realist zu sein in der
Beobachtung des Lebens, in der Schil-
derung eines Milieus, des „peuple de
Paris“ etwa, sich aber nie der naturalis-
tischen Schule so weit zu unterwerfen,
dass Kälte und Distanz seinen Stil hät-
ten prägen können. Daudet ist der
Mitfühlende, mehr noch, der Mitlei-
dende seiner Figuren. Die vorder-
gründige Heiterkeit seiner Geschich-
ten wechselt allzu oft in leise Melan-
cholie. Dann kaschiert allein die Fä-
higkeit zur Selbstironie den tiefen Pes-
simismus Daudets.
Der Schriftsteller selbst sollte bis zu
seinem Tod 1897 nicht mehr in der
Provence ansässig werden. Ein halbes
Jahrhundert später, 1942, starb aber in
Saint-Rémy sein Sohn: Léon Daudet.
Auch er hatte sich als Schriftsteller ver-
Search WWH ::




Custom Search