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mentieren damit eine gewisse Vorlie-
be für alles Politische, die sich auch in
einer traditionell hohen Wahlbeteilung
oder der Begeisterung für öffentliche
Zeremonien spiegelt. Selbst die Stra-
ßennamen provenzalischer Dörfer
sind häufig politischen Ursprungs.
Gleichzeitig geben diese Vereine,
wie auch ganz allgemein der Platz als
Stätte der Begegnung, eine Bühne ab
für die große Leidenschaft jedes ech-
ten Provenzalen: das Spiel. An erster
Stelle ist natürlich Boule zu nennen,
das früher an allen möglichen Stellen
des Dorfes gespielt wurde. Im 18. Jh.
gab es so Anlass zu der Verordnung,
während eines Gottesdienstes nicht
näher als 300 Schritte von der Kirche
entfernt zu spielen. Heute verfügt je-
des Dorf über mehr oder minder offi-
zielle Plätze. Durchgesetzt hat sich
schon seit der Wende zum 20. Jh. die
Variante Pétanque (siehe Exkurs im
Kapitel „Cannes, Estérel-Gebirge und
Hinterland“).
Konkurrieren kann mit Boule allen-
falls das Kartenspiel im Café. Beide
Spiele werden öffentlich ausgetragen,
beide geben Anlass zu immer neuen
Kommentaren und Diskussionen. Bei-
de auch sind den Männern vorbehal-
ten, ihrem Ehrgefühl, ihrer Freude an
List und Tricks, ihrem Sinn für den
Wettbewerb, der eine regelrechte Ge-
genhierarchie im Dorf etablieren kann:
Der beste Spieler genießt enormes
Ansehen.
So verbrachte im traditionellen Dorf-
leben der Mann den größten Teil sei-
ner Freizeit nicht zu Hause, sondern
auf der Straße oder im Café. Und sei-
ne Frau? Auch sie besuchte den Platz,
aber nur, um dort frisches Wasser zu
holen oder einzukaufen. Beides ge-
schah aber in aller Regel dann, wenn
die Männer auf dem Feld oder sonst-
wie bei der Arbeit waren. So war der
Platz für sie kein Ort des Austausches,
außer an den Markttagen. Neben Kir-
che und Friedhof als Versammlungs-
stätten blieben die Frauen ungleich
stärker ans Haus gebunden; sie trafen
sich entweder hier oder unmittelbar in
den Straßen ihres Viertels.
Als der Treffpunkt schlechthin galt
früher aber das lavoir, jenes oft über-
dachte Becken zum Wäschewaschen
am Rand des Dorfes oder des Viertels.
Das geflügelte Wort vom „schmutzige
Wäsche waschen“ drängt sich auf,
wenn man liest, wie mancher Bürger-
meister die waschenden Frauen in Er-
lassen zum Frieden untereinander
mahnte: Sicher hätten sie das Recht,
am Lavoir all ihrem Ärger über jedwe-
de Obrigkeit Luft zu verschaffen; nie-
mals aber sollten sie mit ihren Nach-
barinnen in Streit geraten, und wenn
doch, so dürften jedenfalls den Zun-
genschlägen zumindest keine anderen
Schläge folgen.
Dieses starke Element der Öffent-
lichkeit im Leben jedes Einzelnen
könnte nicht funktionieren, entspräche
ihm nicht eine unbedingte Achtung
des Hauses als privatem Raum. Das
Übertreten der Schwelle bleibt ein
Vorgang, der mit allen möglichen Ri-
tualen behaftet ist. Ho, de l'oustau (so-
viel wie: „Hallo, die im Haus woh-
nen!“) oder, gleich auf das Familien-
oberhaupt bezogen, Ho, l'homme! -
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